Nationalistische Politik sieht Ivan Vejvoda als Gefahr für Europa.

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Ungewissheit ist das prägende Gefühl unserer Zeit, sagt der Politologe Ivan Vejvoda. Und sie macht die Menschen anfällig für populistische Lösungen. Dass unter nationalen Vorzeichen alles besser wird, hält er für einen gefährlichen Fehlschluss. Die EU stehe zwar vor einer schwierigen Wegkreuzung, Vejvoda sieht aber auch ein neues Zusammenrücken.

STANDARD: Jean-Claude Juncker veröffentlichte vergangene Woche fünf Optionen für die Zukunft der EU. Als favorisiertes Szenario der Staatschefs gilt das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die Zukunft?

Ivan Vejvoda: Auch bisher hatten wir schon ein Europa unterschiedlichster Geschwindigkeiten. Ich sehe darin nichts Negatives. Denn de facto wird es ja schon so gelebt.

STANDARD: Ist die Krise der EU jetzt auf ihrem Höhepunkt?

Vejvoda: Europa stand schon mehrmals an schwierigen Wegkreuzungen. Die Besonderheit der heutigen Situation ist, dass wir uns einer Vielzahl von Herausforderungen von außen und von innen gegenübersehen. Dazu zählen die wachsende soziale Ungleichheit, der Aufstieg des Populismus, die neue Trump-Regierung, die schwierige Beziehung zu Russland, Probleme im Nahen Osten und natürlich die Tatsache, dass erstmals ein Mitgliedsstaat austreten will.

Außerdem reicht das Narrativ vom Friedensprojekt Europa für die Jungen nicht mehr aus. Die Erhaltung liberaler Demokratien, basierend auf rechtsstaatlichen Prinzipien, einer offenen Gesellschaft mit Redefreiheit und Versammlungsfreiheit, muss das Ziel bleiben. Gleichzeitig ist einzuräumen, dass viele Bereiche wie Asylpolitik, Geldpolitik oder Grenzsicherung halbherzig betrieben wurden. Wir brauchen eine Regulierung des Marktes, eine Bankenunion, eine gemeinsame Stabilitätsstrategie, eine solidarische Asylpolitik sowie unter Umständen auch eine gemeinsame Strategie gegen Arbeitslosigkeit. Und natürlich müssen nationale Politiker Verantwortung übernehmen. Die gemeinsamen Werte müssen unbedingt verteidigt werden.

STANDARD: Fakt ist: Die Menschen haben das Gefühl, dass ihr Lebensstandard ständig sinkt und die Zeiten schlechter werden.

Vejvoda: Ja, die gefühlte oder tatsächliche soziale Ungleichheit ist ein großes Problem. Man hat versäumt – vor allem in den USA –, den negativen Folgen der Globalisierung entgegenzuwirken. Ungewissheit ist das prägende Gefühl unserer Zeit. Das macht die Menschen anfällig für Populisten. Globaler Handel ist für das Wirtschaftswachstum unumgänglich, gleichzeitig müssen wir aber auch den "Globalisierungsverlierern" Kompensation anbieten. Europa macht das bis zu einem gewissen Grad, aber es ist ein gefährlicher Irrglaube zu meinen, dass alles besser wird, wenn man die Dinge auf lokaler Ebene regelt. Man darf und soll der EU gegenüber aber durchaus kritisch sein, es gibt genug zu verbessern.

STANDARD: Ein Fehlschluss, der zum Beispiel zum Votum für den Brexit führte?

Vejvoda: Ja. Die Politiker in Großbritannien haben es verabsäumt, den Sonderstatus ihres Landes in der Europäischen Union hinreichend zu erklären. Großbritannien genoss viele Vorteile durch die EU, aber die populistische Forderung, die Kontrolle über das eigene Land zurückzugewinnen, hat dort die Oberhand gewonnen. Jetzt ist wichtig, dass der Austrittsprozess geordnet abläuft und der Schaden so gering wie möglich gehalten wird.

STANDARD: Ist der Frieden in der EU tatsächlich in Gefahr, wie derzeit oft in den Raum gestellt wird?

Vejvoda: Ich sehe die Gefahr nicht, sage das aber mit großer Vorsicht. Denn das dachte ich auch, bevor die Jugoslawien-Kriege am Ende des 20. Jahrhunderts im Herzen Europas ausbrachen. Das muss immer eine Warnung für Europa bleiben. Was damals wie heute passierte, waren eine Renationalisierung und ein Erstarken populistischer Parteien. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass es parallel dazu ein wachsendes Verständnis in der Bevölkerung gibt, dass all den aktuellen Herausforderungen nur in einem gemeinsamen Europa begegnet werden kann.

Vergangenes Wochenende beispielsweise fanden in vielen europäischen Städten Kundgebungen für ein geeintes Europa statt. Wir können nicht nur von den Politikern erwarten, uns vor dem drohenden Untergang zu retten. Auch die Zivilgesellschaft ist gefragt, sich zu europäischen Werten zu bekennen. Die Politiker in der EU dürften aber ebenso verstanden haben, dass sie die Ängste der Bürger ernst nehmen müssen. In Umfragen unter EU-Bürgern ist die Sicherheit eines der vorherrschenden Anliegen. Das hängt mit der Angst vor Terrorismus zusammen und mit dem Gefühl, die Migrationsströme nicht kontrollieren zu können.

STANDARD: Wie wirkt sich Donald Trump auf Europa und seine Werte aus?

Vejvoda: Trumps Haltung zu Europa stellt sowohl die sicherheitspolitische als auch die wirtschaftliche Beziehung infrage. Das birgt aber auch Chancen. Europa ist nun gezwungen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Vor fünf Jahren hat der Krieg in Syrien begonnen, und Europa hat ihn mehr oder weniger ignoriert. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten waren nicht auf den Migrationsstrom vorbereitet und spielten keinerlei Rolle in der Allianz gegen den Krieg. Die EU muss beginnen, strategischer zu denken und im Voraus zu planen, anstatt nur zu reagieren. Sie muss belastbarer werden.

STANDARD: Die Niederlande, Frankreich und Deutschland wählen in der nächsten Zeit. Eine neue Chance für die Populisten?

Vejvoda: Die Franzosen stimmen traditionell eher für das geringere Übel, als daheim zu bleiben. Deswegen denke ich, dass Marine Le Pen in der Stichwahl unterliegen wird. Würde sie gewinnen, wäre das für Europa sehr dramatisch. Einerseits natürlich wegen ihrer nationalistischen Politik, aber auch deswegen, weil es zeigen würde, dass der populistische Trend nicht zurückzudrängen ist und die Menschen – wie in den USA – auf einfache Scheinlösungen hereinfallen. Dass Parallelen mit der Weimarer Republik gezogen werden, halte ich aber für unzulässig.

Aber wenn die Le Pens oder Geert Wilders' an die Macht kommen, wird es zumindest demokratische Rückschritte geben. Wir sehen das in Ungarn und in Polen. Deshalb ist das Funktionieren der Zivilgesellschaft umso wichtiger. In Polen wurde beispielsweise das restriktive Abtreibungsgesetz verhindert. Wir müssen dafür kämpfen, was wir bis jetzt erreicht haben.

STANDARD: Würde Deutschlands Rolle auch unter einem Kanzler Schulz ähnlich wichtig in dieser Phase bleiben?

Vejvoda: Ja, absolut. Deutschland ist sowohl politisch als auch ökonomisch und sicherheitspolitisch wichtig und hat verstanden, dass jetzt der Moment gekommen ist, Verantwortung zu übernehmen. Aber Deutschland braucht natürlich Verbündete und kann die Bürde nicht alleine tragen.

STANDARD: War der Flüchtlingsdeal mit der Türkei ein Fehler?

Vejvoda: In einer dramatischen Situation wie dieser macht man solche Deals. Das ist Krisenmanagement.

STANDARD: Sind Sie optimistisch, was die Zukunft der EU betrifft?

Vejvoda: Ja. Nach dem Brexit-Votum hat die Bertelsmann-Stiftung eine EU-weite Umfrage veröffentlicht. In praktisch jedem Land war die Stimmung gegenüber der EU positiv. Erst wenn die Menschen mit der Möglichkeit eines Zusammenbruchs der EU konfrontiert werden, merken sie, was sie an ihr haben. (Manuela Honsig-Erlenburg, 9.3.2017)