Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) diagnostiziert im STANDARD-Interview vor dem EU-Jubiläumsgipfel in Rom "eine massive Erosion der Solidarität in Europa". Die Hoffnungen auf ausreichenden Wohlstandszuwachs in Osteuropa hätten sich mit der EU-Erweiterung nicht erfüllt. Das Lohngefälle führe nun dazu, dass insbesondere in Österreich "der Arbeitsmarkt massiv belastet wird", es zu Lohn- und Sozialdumping komme, sagt Kern. Die EU müsse daher das Projekt einer Sozialunion dringend in Angriff nehmen.

Der Reformanstoß werde von einer erneuerten deutsch-französischen Achse kommen, ist der Kanzler überzeugt. Der SPÖ-Chef gibt für die französische Präsidentschaftswahl eine klare Wahlempfehlung für den Unabhängigen Emmanuel Macron ab, nicht für den SP-Kandidaten Benoît Hamon.

Sein Verhältnis zu Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) in Sachen Europapolitik schildert der Kanzler relativ entspannt: "Wir haben ein hohes Maß an Konsens", erklärt er, es gebe nur graduelle Unterschiede etwa in der Haltung zur Türkei oder beim Plan eines Beschäftigungsbonus für Österreicher gegenüber EU-Ausländern. Differenzen sehe er in der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Beschäftigungspolitik, aber Differenzen zeigten sich, wenn, dann nur im innenpolitischen Verkauf, nicht aber bei dem, was die Regierung in Brüssel vertrete. Für den EU-Vorsitz Österreichs in der zweiten Jahreshälfte 2018 sehe er keine Probleme, sagt Kern.

STANDARD: Sie sind jetzt fast ein Jahr lang Bundeskanzler, haben sechs EU-Gipfel absolviert. Wie ist von dieser höchsten Ebene aus Ihre Diagnose zum Zustand der Union?

Kern: Wir haben sehr viele, mitunter ins Detail gehende Diskussionen geführt, oft über konfliktreiche Themen. Europa ist bei all seinen Problemen in eine Lage geraten, wo es jetzt darum geht, einen Selbstvergewisserungsprozess vorzunehmen. Das ist nicht zuletzt wegen der Herausforderung durch Rechtsdemagogen wichtig. Es ist richtig, wenn wir uns beim Jubiläumsgipfel in Rom noch einmal vor Augen führen, in welchem Europa unsere Kinder aufwachsen sollen.

In Europa gehe es jetzt darum, einen "Selbstvergewisserungsprozess vorzunehmen", sagt Bundeskanzler Christian Kern.
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STANDARD: Das Treffen wurde nach der Brexit-Abstimmung einberufen, um den Weg zu zeigen, wie die EU-27 nach dem Austritt Großbritanniens weitermachen wollen. Selbstvergewisserung bedeutet konkret was? Inventur, Neuorientierung?

Kern: Die Deklaration von Rom wird eine Bestandsaufnahme, wenn man so will. Wir vergessen oft, dass die Union nicht nur der größte, sondern auch der reichste Wirtschaftsraum der Welt ist. Das ist eben keine Selbstverständlichkeit. Für das, was in 60 Jahren aufgebaut worden ist, gibt es keine Garantie, dass es auch die nächsten 60 Jahre so bleibt. Wir stehen heute an einer Weggabelung. Der frühere französische Staatspräsident François Mitterrand hat einmal gesagt, Nationalismus endet immer im Krieg. Als jemand, der im Leben keinen Krieg erlebt hat, hat man guten Grund, sich das vor Augen zu führen, was eigentlich die Grundintention der Gemeinschaft war. Entscheidend ist: Wir wollen gemeinsam gegen Nationalismus auftreten und unser Geschick gemeinsam in die Hand nehmen.

STANDARD: Mitterrand sagte das 1995 im Europaparlament direkt an die Abgeordneten gewandt, noch vor Euroeinführung und Erweiterung. Fast 20 Jahre später könnte man sagen, der Auftrag gilt noch immer. Warum fällt es den Regierungschefs so schwer, Europa weiterzubauen?

Kern: Es gibt zwei Faktoren, die das erschweren. Das eine ist taktisch. 2017 wird in der Union ein Übergangsjahr sein. Da sollten wir uns nicht in die Tasche lügen. Der Dialog über die Zukunft der EU wird erst nach dem 24. September in die Gänge kommen können.

STANDARD: Weil dann nach der französischen Präsidentenwahl an diesem Tag auch die Bundestagswahl in Deutschland geschlagen ist?

Kern: Ja, und möglicherweise auch Wahlen in Italien, wobei die Briten dann schon die EU-Austrittsverhandlungen führen und nicht mehr dabei sind bei dieser Zukunftsdebatte. Das heißt, die vier größten entscheidenden Länder der EU sind in einer Umbruchsphase der politischen Unklarheiten. Das ist der eine Grund.

STANDARD: Also, ein großer Reformprozess wird vorher nicht starten?

Kern: Rom ist nur ein Ausgangspunkt. Ich gehe davon aus, dass der Reformprozess nicht 2017 abgeschlossen werden kann, auch nicht 2018 während der österreichischen EU-Präsidentschaft.

STANDARD: Aber was wird das Neue sein an der Erklärung von Rom?

Kern: Es wird darum gehen, den wirtschaftlichen und kulturellen Erfolg deutlich zu unterstreichen, die gemeinsamen Werte. Und es wird das Bekenntnis zu einem sozialen Europa hinzugefügt werden. Weiters werden wir festhalten, dass es einen Weiterentwicklungsprozess geben muss, der uns ermöglicht, dass wir bei bestimmten Politiken schneller vorankommen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat dazu mehrere Szenarien beschrieben. Listig, wie immer, hat er damit eine wichtige Debatte auf den Weg gebracht.

"Der Dialog über die Zukunft der EU wird erst nach dem 24. September in die Gänge kommen können", sagt Kern.
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STANDARD: Jene vom berühmten Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Was ist der zweite Grund, warum die Regierungschefs bei ihren Entscheidungen nicht weiterkommen?

Kern: Neben dem genannten taktischen Aspekt der Wahlen haben wir eine massive Erosion der Solidarität. Mein Verständnis ist, so wie Juncker das auch genannt hat, man kann nicht nur Halbtagseuropäer sein. Man muss auch unangenehme Dinge mittragen. Das ist in unserem Fall zum Beispiel bei Ceta so gewesen.

STANDARD: Dem EU-Freihandels- und -Investitionsabkommen mit Kanada.

Kern: Ich habe die Linie vertreten, dass wir keine Blockadepolitik gegen alle anderen betreiben, auch wenn wir in Details gerne ein anderes Handelsabkommen gehabt hätten. Diese Bereitschaft, Dinge in der Gemeinschaft mitzutragen, die geht zunehmend verloren. Ich habe diesbezüglich schon mehrfach Erfahrungen gemacht in Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt und Maßnahmen dazu. Die Grundidee der Personenfreizügigkeit mit der Erweiterung war, es kommt die Konvergenz der Löhne, die Kaufkraft passt sich an.

STANDARD: Also ganz konkret zwischen den Ländern von Ost- und Ostmitteleuropa und den wohlhabenden westlichen EU-Staaten?

Kern: Nicht zuletzt durch die Kohäsionszahlungen der EU-Kommission aus dem gemeinsamen Budget sollte es am Ende des Weges zu einer Aufteilung der Wirtschaftskraft kommen. Das war die Vorstellung.

STANDARD: War das eine naive Vorstellung?

Kern: Das war eine zu optimistische Vorstellung. Die Produktivitätszuwächse sind nicht so eingetreten, dass sie größere Gehalts- und Lohnsprünge ermöglicht hätten. Sie holen zwar auf, aber es gibt immer noch großen Rückstand. Und jetzt stellen wir fest, dass es durch das massive Lohngefälle Verzerrungen gibt, die unseren Arbeitsmarkt in Österreich durch importierte Arbeitslosigkeit, Lohn- und Sozialdumping massiv belasten. Das kostet Unternehmen Aufträge, Menschen faire Löhne und uns alle Steuereinnahmen. Mein Punkt ist zu sagen, ich hätte das gerne gemeinsam diskutiert, weil das Probleme schafft, die die antieuropäischen Kräfte stärken.

STANDARD: Heißt das, es sollte grundsätzlich zwar eine Sozialunion geben, aber man muss Maßnahmen sehr differenziert setzen, weil sie in verschiedenen EU-Staaten sehr unterschiedlich wirken?

Kern: Die Grundidee war, dass insbesondere die Sozialstandards der wirtschaftlich nachhinkenden Länder nach oben nivelliert werden, nicht die sozialen Standards in den entwickelten Ländern nach unten. Es wird dazu in Göteborg bald einen eigenen EU-Gipfel geben. Dort sollen die sozialen Säulen der Union diskutiert werden. Das ist ein sozialdemokratisch geprägter Ansatz. Wir brauchen ein starkes Europa, die Wohlstandseffekte, unser Wertefundament, sind damit verbunden. Aber dazu stellt sich jetzt die Frage: welches starke Europa? In den letzten zehn Jahren wurde zu viel über Deregulierung geredet, über Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz des Binnenmarktes, wir haben dabei aber vergessen, dass Europa nicht aus Bilanzen besteht, sondern aus Menschen. Das ist nachzuholen. Wir müssen eine soziale Säule in Europa schaffen, mit der wir alle miteinander nach oben gehen, damit unsere Standards gehalten werden können. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Aber wir müssen jetzt die Schritte setzen.

STANDARD: Zusammengefasst: Die gemeinsame Sozialpolitik wird in Rom das neue Element sein?

Kern: Nur ein soziales Europa kann ein solidarisches Europa sein. Wir führen heute deshalb eine Diskussion über den Arbeitsmarkt, wo Österreich ein Problem hat, und leider ein sehr spezielles in der Union, weil wir durch die regionale Lage besonders betroffen sind. Das gilt auch für die Körperschaftssteuern. Wir brauchen auch gemeinsame Bemessungsgrundlagen, weil wir sonst innerhalb der Gemeinschaft nicht nur einen Wettlauf um die niedrigsten sozialen Standards, sondern auch noch um die niedrigsten Steuern für Unternehmen haben. Wir brauchen kein Europa, in dem alles immer billiger wird, sondern eines, das besser wird für die Menschen.

Für Kern kann "nur ein soziales Europa ein solidarisches Europa sein".
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STANDARD: Zurück zu den Entscheidern im Europäischen Rat. Warum gelingt es den Regierungschefs nicht, all das endlich in die Hand zu nehmen und auch auf den Weg zu bringen? Warum zerbröselt das ständig, wird zerredet?

Kern: Weil es sehr unterschiedliche Interessenlagen gibt. Wann immer ich zum Beispiel den irischen Premierminister treffe, erinnere ich ihn daran, dass er noch immer nicht die Steuerschuld von Apple eingehoben hat. Er erklärt mir dann, dass er das nicht kann und will. Das ist mittlerweile wie ein Treppenwitz zwischen uns. Oder: Die Niederlande sind beliebte Durchschleuser in Steueroasen. Wenn wir über Solidarität in Europa reden, muss sich jeder bei der Nase nehmen. Jeder, der mit dem Finger auf die Osteuropäer zeigt, verkürzt die Diskussion. Bei der Steuergerechtigkeit haben wir eine Diskussion mit den Iren, Niederländern, Luxemburg, Malta etwa.

STANDARD: Seltsamerweise geht es in den Schlagzeilen meistens nur um Luxemburg.

Kern: All das ist Ausdruck der Entsolidarisierung. Was ich aber schon auch erlebe, ist, dass es seit der Brexit-Entscheidung und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten nach dem ersten Schock nun eine Änderung gibt. Es wird verstanden, dass wir eine Lösung brauchen, dass wir nicht so weitertümpeln können.

STANDARD: Wenn 2017, wie von Ihnen erwähnt, ein Übergangsjahr ist, was könnte 2018 folgen, woher sollen die Reformanstöße kommen? Wieso tun sich kleine Länder, Österreich, Benelux, Slowenien, nicht zusammen zu einer Kerntruppe für eine bessere EU?

Kern: Es gibt eine Reihe von Bemühungen, das werden auch konzeptive Übungen sein. Aber am Ende wird entscheidend sein, wer in Frankreich Staatspräsident ist. Ich setze sehr auf Emmanuel Macron.

STANDARD: Nicht auf den sozialistischen Kandidaten Benoît Hamon?

Kern: Macron ist eine Hoffnung. Wenn dann wieder eine neue deutsch-französische Achse entsteht, die wir brauchen, und es in Deutschland einen neuen Bundeskanzler gibt, wo ich ja auch meine bekannte Präferenz habe ...

STANDARD: Bei SPD-Chef und Spitzenkandidat Martin Schulz, nehme ich an?

Kern: ... ja, da bin ich optimistisch, dass die deutsch-französische Achse wieder unter Dampf kommt. Was ich derzeit erlebe, ist, dass der Reformmotor nicht läuft. Kanzlerin Angela Merkel ist die Stimme der Vernunft, die darauf schaut, dass keine noch größeren Fehler passieren. Aber die Wahlkämpfe in Frankreich und später auch in Deutschland werfen ihre Schatten voraus.

STANDARD: Wir Bürger würden immer gerne wissen, was passiert, wenn die Türen bei EU-Gipfeln hinter den Regierungschefs geschlossen sind. Wie erleben Sie das?

Kern: Erstens passiert sehr viel Arbeit schon im Vorfeld, durch den Ratspräsidenten Tusk und durch mein Kabinett und die Expertinnen und Experten im Bundeskanzleramt. Und das Zweite ist, es gibt eine sehr konzentrierte Diskussion über die Agenda, das reicht von außenpolitischen Fragen bis zur Wirtschaftspolitik. Da nehmen alle sehr engagiert teil, jeder bringt seine Vorschläge vor. Das Problem ist, dass am Ende die Umsetzung ein bisschen auf der Strecke bleibt. Mangelnde Exekution ist unsere größte Schwäche.

Kern ist "optimistisch, dass die deutsch-französische Achse wieder unter Dampf kommt".
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STANDARD: Zurück zu Frankreich und Deutschland: Was könnte von Macron und Schulz oder von Kanzlerin Merkel mit einem Außenminister Schulz, wenn er nicht gewinnt und Kanzler wird, in einer erneuerten deutsch-französischen Achse für Europa ausgehen? Ein Aufbruch wie bei François Mitterrand und Helmut Kohl?

Kern: Es gibt zwei große europäische Grundprobleme. Das erste ist die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben die gemeinsame Währung eingeführt, haben aber keine gemeinsame Fiskalpolitik und Wirtschaftspolitik. Man kann beobachten, wie die Disparitäten etwa zwischen Deutschland und Italien zunehmend gravierend werden. Das produziert ein Vakuum, das heute von einem Mann ausgefüllt wird, der eigentlich gar nicht zuständig wäre, Mario Draghi.

STANDARD: Der Chef der Europäischen Zentralbank.

Kern: Der ist mittlerweile der wichtigste Wirtschaftspolitiker der Union.

STANDARD: Ein geheimer Regierungschef?

Kern: Wenn man so will, einer, der in der Wirtschaftsregierung seinen Weg konsequent durchsetzt, einer, der auch gegen Widerstand handelt. Das zweite Problem ist, dass spätestens mit der letzten EU-Erweiterung die Entscheidungsmechanismen angepasst hätten werden sollen. Bei abnehmender europäischer Solidarität führt die aktuelle Verfassung zu oft zu Stillstand.

STANDARD: Was bringen Sie in Rom für Österreich ein, als Wunsch beziehungsweise als Beitrag?

Kern: Wir haben das bereits getan. Die Erklärung wird schon vor dem Treffen erarbeitet. Es wird ganz stark darum gehen, was wir eigentlich sein wollen. Wir wollen ins Bewusstsein rücken, dass das Gerede vom Untergang Europas übertrieben ist, um Mark Twain zu zitieren. Ich habe mit ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner vereinbart, dass wir bis Juni eine österreichische Reformposition festlegen, die darauf aufbaut.

STANDARD: Außenminister Sebastian Kurz präsentierte gerade seine Vorstellungen zur EU-Reform. Man hat als Außenstehender manchmal das Gefühl, es gebe zwei Europalinien in der Koalition, eine durch den Regierungschef vertreten, die andere durch den Außenminister. Beide bringen ständig Einzelvorschläge, von Türkei-Beitritt über Bonus für EU-Inländer bis hin zum Kindergeld. Sieht nach der alten österreichischen Krankheit aus, dass SPÖ und ÖVP eine getrennte Europalinie fahren. Warum?

Kern: Diesen Eindruck teile ich so nicht. Wir sind in vielen Punkten sehr gut abgestimmt, haben ein hohes Maß an Konsens. Ich würde sagen: bei 90 Prozent der Dinge. Was Sie zitieren, etwa bei der Türkei-Politik, da gibt es vielleicht graduelle Unterschiede, aber eine Grundausrichtung. Der Beschäftigungsbonus ist sogar im Regierungsprogramm festgeschrieben, also eine gemeinsame Position. Daneben gibt es eine Reihe von anderen Einzelvorschlägen, aber es macht keinen Sinn, wenn der Bundeskanzler großartig kommentiert, was zwar im öffentlichen Raum schwebt, aber nicht auf dem Regierungstisch liegt.

Bei der Türkei-Politik gebe es innerhalb der Koalition "vielleicht graduelle Unterschiede, aber eine Grundausrichtung".
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STANDARD: Der Eindruck ist, da rittern zwei um die Vorherrschaft auf dem Gebiet EU, beziehungsweise dass in der Regierung die Änderungen durch den EU-Vertrag von Lissabon 2009 noch nicht vollzogen wurden. Demnach wäre EU-Politik Chefsache. Anders als früher nehmen die Außenminister nicht mehr an EU-Gipfeln teil, dafür haben die Regierungschefs nun konkrete Entscheidungskompetenzen. Trotzdem sagt Kurz, er sei für die EU-Politik zuständig. Wie geht das zusammen?

Kern: Mag sein, dass der Eindruck bewusst geschürt wird, aber wir haben das ganz klar organisiert. Es geht nicht nur um das Verhältnis zum Außenminister, sondern zu allen Ministern. Europapolitik ist zu weiten Teilen Innenpolitik geworden. Daher ist es logisch, dass der Außenminister in den meisten Sachentscheidungen nicht mit am Tisch sitzt. Das ist in Österreich wie in allen Ländern so.

STANDARD: Aber wenn man sich in den EU-Staaten umschaut, ist es eben so, dass die Regierungschefs die Europapolitik führen und gestalten. Die Außenminister setzen um, was die Regierungschefs im Rat beschließen, anders als vor 2009. Ist das nicht so?

Kern: Ein Beispiel: Wenn es um die CO2-Zertifikate geht, dann ist das im EU-Umweltministerrat, und wir stimmen das in der Koalition natürlich ab. Das ist ein regelmäßiger Arbeitsprozess. Es geht nicht um Vorschläge, die für die Homeconsumption gemacht werden. Wir haben also einen gut abgestimmten Auftritt in allen EU-Räten. Davon zu unterscheiden sind Vorschläge, die eher für das heimische Publikum bestimmt sind und in Brüssel nicht wirksam werden. Die gibt es auch zur Genüge. Aber in der Substanz, da, wo wirklich etwas passiert oder es wirklich um etwas geht, haben wir eine abgestimmte Koalitionshaltung.

STANDARD: Anders als etwa in Frankreich oder Deutschland ist die europapolitische Gesamtlinie in Österreich nicht Sache des Präsidenten beziehungsweise Regierungschefs. Ist das nicht eine strukturelle Schwäche?

Kern: Das ist eine strukturelle Schwäche, aber in einer Koalitionsregierung wird die Abstimmungsnotwendigkeit immer bleiben. Das funktioniert auch, und ich bin davon überzeugt, dass wir das jetzt bei den in Rede stehenden Europathemen auch erreichen werden. Wir müssen natürlich aufpassen, dass wir mit dissonanten Vorschlägen die Partner nicht irritieren und die uns dann fragen: "Was wollt Ihr eigentlich?" Es hat schon jeder vor seiner Türe zu kehren.

STANDARD: Gibt es Überlegungen, für die nächste Regierung beim Bundeskanzler ein Europaministerium zu schaffen, weil der Bundeskanzler immer mehr der Ansprechpartner der EU-Partner wird und nicht der Außenminister?

Kern: Logischerweise rufen die Regierungschefs hier bei mir an. Das ist auch eine vertraute Gemeinschaft, wo jeder mit jedem per Du ist. Fragen werden vertrauensvoll und unkompliziert am Handy direkt geklärt. Die Türkei-Geschichte hat zuletzt gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir uns in Europa abstimmen. Wir haben nur eine Chance, wenn wir in Europa Bündnispartner finden.

STANDARD: Also, Kern und Kurz sind in Sachen Europa gar nicht so weit auseinander, wie es manchmal in der Öffentlichkeit erscheint.

Kern: Das würde ich bei einigen Punkten unterstreichen, sicher aber nicht, was beschäftigungs- oder arbeitsmarktpolitische Fragestellungen betrifft. Da haben wir ganz klar andere Meinungen.

Die Türkei-Geschichte habe zuletzt gezeigt, "wie wichtig es ist, dass wir uns in Europa abstimmen", sagt Kern.
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STANDARD: Was bedeutet das für den EU-Vorsitz?

Kern: Ich vertrete Österreich im Europäischen Rat. Wir werden, mit dem Vizekanzler abgestimmt, eine österreichische Position formulieren. Aber man muss in Zusammenhang mit der EU-Präsidentschaft schon sehen, dass sich deren Charakter geändert hat, seit es den ständigen Ratspräsidenten Tusk und seinen Stab gibt. Die Vorstellung, dass Österreich bilateral den Brexit verhandelt, das ist ja ein Unsinn.

STANDARD: Die wichtigsten Themen landen alle bei Tusk?

Kern: Oder bei Junker. Es wäre falsch, wenn einzelne Mitgliedsländer jetzt auf die Idee kämen, im EU-Vorsitz auch bilateral verhandeln zu wollen. Das würde uns nur auseinanderspalten. Der EU-Vorsitz ist eine Art Assistenzpräsidentschaft. Den Eindruck zu haben, dass sich durch den österreichischen EU-Vorsitz die Zukunft Europas entscheidend verändert, wäre – mit Verlaub – eine Illusion.

STANDARD: Wer ist für den SPÖ-Bundeskanzler Kern in Bezug auf Europapolitik das größere Vorbild, Bruno Kreisky oder Franz Vranitzky?

Kern: Wir haben von dem, was uns Kreisky hinterlassen hat, sehr lange gezehrt. Die Rolle, die er in der Außenpolitik gespielt hat, ist so nicht wiederholbar, und das ist auch richtig. Es gibt eine EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, und die Grundidee ist, das gemeinsame Europa zu stärken, den gemeinsamen Auftritt. Was Vranitzky betrifft, er hat einen entscheidenden Modernisierungsschritt gesetzt, das müssen wir fortsetzen. Das Europa, dem wir 1995 beigetreten sind, das gibt es nicht mehr. Es geht darum, auf dem Erbe Kreiskys und Vranitzkys aufzusetzen und die Modernisierung unserer Strukturen zu erreichen.

STANDARD: Vranitzky war ein Visionär, er hat bereits 1986 den EG-Beitritt forciert, den Weg in den Westen, lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Was ist die Vision von Bundeskanzler Kern für Österreich in zehn Jahren, Stichworte Digitalisierung und Globalisierung?

Kern: Die EU bietet uns den Rahmen für diese Zukunftsentwicklung. Aber wir dürfen nicht warten, bis die europäischen Initiativen zu uns kommen. Ich habe diese Vision auf den 140 Seiten des "Plans A" vorgelegt: Beschäftigung, soziale Sicherheit, Innovation und Bildung sind die Hauptelemente. Unter dem Dach der EU haben wir die Chance, uns exzellent zu entwickeln. Unser Land braucht Veränderung, weitreichende Reformen. Und wir dürfen uns nicht hinter Kritik an der EU verschanzen. Wenn ich höre, dass die EU zu bürokratisch sei, dann denke ich mir allerweil, diese Bürokratie hätte ich gerne in Österreich. Die sollten wir uns eher in Österreich zum Vorbild machen, um schlanker zu werden. Wir brauchen Veränderung mit aller Konsequenz, und schneller, als die europäischen Prozesse vorankommen.

Die Bürokratie in der EU "sollten wir uns eher in Österreich zum Vorbild machen, um schlanker zu werden", sagt Kern.
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STANDARD: Wird der Brexit in den Konsequenzen auf die EU-Partner unterschätzt? Wird die EU nicht deutlich schwächer, weil eines der stärksten Mitglieder ausscheidet?

Kern: Der Brexit wird dazu führen, dass die Grundsatzfragen auf den Tisch kommen, zum Beispiel, ob wir weiter zusammenwachsen wollen. Bis jetzt hat man immer gesagt, geht nicht, die Briten können da nicht mit, oder die Polen blockieren. Wir müssen jetzt konsequent weiterdenken.

STANDARD: Das schließt den Kreis zu Mitterrand. Er und Kohl wollten nach 1989 ein starkes Europa kreieren, gegen erbitterten Widerstand der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, lange bevor die Osteuropäer EU-Mitglied wurden. Da stehen wir heute wieder, nicht?

Kern: Und all die Rücksichtnahmen haben uns dorthin geführt, wo wir heute stehen. Wir brauchen ein starkes Europa, davon werden wir Österreicher am meisten profitieren. (Thomas Mayer, 22.3.2017)