Jedem Werk seine eigene Ästhetik, findet Aron Stiehl.


Foto: Helge Bauer

STANDARD: Was ist das Entscheidende bei der Opernregie?

Stiehl: Das Wichtigste ist, glaube ich, Geschichten zu erzählen und zu berühren: dass man eher für Seele und Gefühl Theater macht und nicht für den Kopf. Auch die Musik geht ja erst einmal ans Herz und erst dann an den Kopf. Oper ist zuerst einmal Emotion.

STANDARD: Wobei Emotion ohne Reflexion es wohl auch schwer hat, etwas zu erzählen.

Stiehl: Es geht darum, berührt zu werden und dann zu überlegen, was da eigentlich war?

STANDARD: Da beschreiben Sie die Warte derer, die in der Vorstellung sitzen. Ist Ihr Arbeitszugang analog dazu?

Stiehl: Ja, schon. Erst einmal werde ich von einem Werk berührt, dann beginne ich Fragen zu stellen und das Werk zu sezieren. Dabei muss man aber aufpassen, es nicht zu zerstören. Man darf einem Stück nicht das Geheimnis rauben. Es muss etwas Heiliges dableiben. Man darf Oper nicht dekonstruieren oder profanisieren.

STANDARD: Kann es daher sein, dass Sie als Regisseur nur einen Teil Ihrer Erkenntnisse preisgeben und anderes verborgen halten?

Stiehl: Ich glaube, das kann man so sagen. Ich glaube, es gibt besonders im deutschsprachigen Raum die Tendenz, dem Publikum mit dem Zeigefinger zu kommen und zu sagen: So müsst ihr das verstehen. Damit unterbindet man Fantasie, macht die Leute klein. Man muss Fragen stellen und nicht immer Antworten geben. Ich erzähle eine Geschichte mit einer gewissen Perspektive und Fragestellung, aber Antworten finden muss man selbst. Es gibt keine endgültigen Antworten darauf, was Liebe ist oder Geburt oder Tod oder Sinn des Lebens ist.

Und: Jedes Werk braucht eine andere Ästhetik. Die große Gefahr ist es, zu realistisch oder gar naturalistisch zu werden. Das Stück ist nicht die Welt, daher muss man eine Bildersprache finden, die über das Reale hinausgeht.

STANDARD: Wie sehen Sie diese Problematik bei Ihrer aktuellen Produktion an der Volksoper?

Stiehl: La Wally ist ein sehr realistisches Stück aus dem Verismus. Wenn man das eins zu eins umsetzt mit Tirol und Kirchturm und Bergen, ist die Gefahr da, dass man das, worum es geht, gar nicht anspricht. Dann wird es ein niedliches Stück mit Trachten. Kitsch wäre hier also gefährlich, denn es geht hier vor allem um die innere Problematik der Personen auf der Bühne.

STANDARD: War es für Sie also die Herausforderung, die Geschichte vom Ambiente zu lösen?

Stiehl: Ja, genau. Es geht um die Spannungen, die die Menschen in sich tragen oder untereinander austragen. Wir zeigen kein realistisches Haus mit realistischen Zimmern, sondern die Weite und das Licht, die im Stück vorkommen, oder auch sehr enge Räume. Das Ganze ist stark schwarz-weiß gehalten, es könnte auch mitten im Schnee sein, aber stilisiert. Es geht vielmehr um Seelenräume.

STANDARD: Handelt es sich also womöglich um nach außen projizierte Innenräume?

Stiehl: Genau. Es geht um die Frage, warum plötzlich eine Enge oder Weite entsteht: Was ist das für eine Gesellschaft, dieses Dorf, in dem jeder beäugt wird und ganz genau vorgeschrieben wird, was normal ist und was nicht? Wally ist ein bisschen burschikos und gar nicht fraulich. Das genügt, um merkwürdig zu erscheinen und ausgestoßen zu werden. Sie ist ohne Mutter groß geworden und hat einen furchtbaren Vater, der sie überhaupt nicht versteht.

STANDARD: Das Stück scheint sehr auf Dramatik und Effekt hin kalkuliert zu sein, sozusagen mit dem großen Pinsel gemalt.

Stiehl: Es ist eigentlich eine ganz geradlinige Geschichte, ein bisschen wie Puccini und dann wieder ganz anders. Die Partitur ist streng durchkomponiert: Komponist Alfredo Catalani hat auch seinen Richard Wagner gekannt. Es ist ein ganz tolles Werk, und die Musik ist wunderschön. Es ist am Ende so, dass der Tod, den Wally erleidet, positiv ist, mit Liebe und Erlösung zu tun hat.

STANDARD: Ist es eigentlich ein Vorteil, ein unbekanntes Stück auf die Bühne zu bringen?

Stiehl: Nicht unbedingt. Vielleicht geht man etwas unschuldiger heran. Aber man muss sich natürlich mehr hineinknien, um das Stück auch wirklich zu durchdringen. (Daniel Ender, 23.3.2017)