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Lyon, im Februar. In einem Hinterraum des Sportpalastes strahlt Emmanuel Macron buchstäblich, noch ganz erhitzt von seinem über zweistündigen Auftritt vor 5000 Anhängern, denen er Dinge sagte wie: "Je vous aime farouchement" – ich liebe euch wie wild. Dicht neben dem Sonnyboy mit den blauen Augen steht eine Frau im besten Alter, mit Stöckelschuhen und breitem Lachen, das von einer blonden Mähne eingerahmt wird. "Sie könnte seine Mutter sein, nicht?", raunt ein Lokaljournalist mit Weinglas in der Hand.

Brigitte Macron hört es nicht, und sie würde auch nicht hinhören; sie hat den Satz schon zu oft gehört. Nicht dass er ihr peinlich wäre. Unverblümt hat sie zu einem TV-Starmoderator gesagt: "Wir müssen uns beeilen mit der Präsidentenwahl, denn ich weiß nicht, welches Gesicht ich in ein paar Jahren haben werde."

Vor ein paar Jahren, genauer gesagt 1993, war noch alles anders gewesen, in Amiens, einer anderen französischen Provinzstadt im Norden des Landes. Emmanuel war fünfzehn Jahre alt, ein aufgeweckter, rundum beliebter Schüler des Jesuiten-Lyzeums Providence (Vorsehung).

Selbstverständlich und öffentlich zelebrierte Liebe: Nicht von ungefähr werden Emmanuel Macron und seine Frau Brigitte bereits mit den Obamas verglichen.
Foto: APA / AFP / Eric Feferberg

Der Jüngling Emmanuel denkt noch nicht an die Politik, er besucht den Theaterklub der Schule, der von der Französischlehrerin Brigitte Auzière geleitet wird. Auch sie ist beliebt und stadtbekannt; aus einer alteingesessenen Schokolade- und Confiserie-Dynastie in Amiens stammend, ist sie mit einem Bankdirektor verheiratet und zieht drei Kinder groß.

Eine temperamentvolle Lehrerin aus gutem, gutbürgerlichem Haus also, der auch Emmanuel mit dem gebührenden Respekt begegnet. Bald zeigt sich, dass "Madame Auzière" und der frühreife Klavierspieler eine gemeinsame Leidenschaft für das Musische haben. "Mit vier Händen", wie sich eine Kennerin elegant ausdrückt, schreiben sie sogar ein Theaterstück, das am Lycée der "Vorsehung" aufgeführt wird. Emmanuel spielt auf der Bühne unter Szenenapplaus eine Vogelscheuche.

Zarte Bande, harte Realität

Hinter den Kulissen aber hat eine weitere Geschichte begonnen; unausgesprochen, aber spürbar für alle bahnt sich eine Beziehung zwischen der Lehrerin und dem Schüler an, zuerst platonisch, schließlich ist Emmanuel noch nicht einmal aus dem Schutzalter heraus. Zudem erinnert man sich in Frankreich noch heute an den später verfilmten Skandal um eine Lehrerin aus Marseille, die sich in den 1960er-Jahren in einen Schüler verliebte und sich nach einer Haftstrafe das Leben nahm.

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Brigitte Auzière weiß um ihre Gefühle und das Risiko, auch wenn sich die Zeiten seit den Sechzigern geändert haben. Ein wenig. Amiens ist nach wie vor eine traditionelle, bürgerlich wählende Stadt; Brigitte ist verheiratet, Emmanuel Sohn eines ortsbekannten Neurologen. Eine unmögliche Beziehung. Die 40-jährige Lehrerin fleht den 16-Jährigen an, von ihr zu lassen und nach Paris zu ziehen, und er wechselt in der Tat in das dortige Lycée Henri IV, das vielleicht beste Frankreichs. Bevor er abreist, sagt er ihr aber trotzig: "Sie werden mich nicht los. Eines Tages kehre ich zurück, um Sie zu heiraten."

Die Lehrerin wird später einräumen: "Ich wusste, dass er der Mann meines Lebens war." Zwischen Paris und Amiens kommt es zu stundenlangen Telefongesprächen, begleitet von diskreten Rendezvous auf dem Bahnhofskai. Falls einmal pubertäre Ödipus-Fantasien am Werk gewesen sein sollten, ist daraus Leidenschaft, eine wahre Liebe geworden: Brigitte bricht mit ihrem Ehemann, was in der Provinzbourgeoisie durchaus noch das Zeug zum Skandal hat.

Natürliche, selbstverständlich zelebrierte Liebe

In Paris begleitet sie ihren jungen "Lover" – die kesse Brigitte mag solche englischen Ausdrücke – offen bei Veranstaltungen der Eliteuni Sciences Po, die Emmanuel nun besucht, oder zum Philosophen Paul Ricoeur, der ihn unter seine Fittiche genommen hat. Auch in der freien Hauptstadt zieht das ungleiche Paar die Blicke auf sich. Aber bald gewöhnt sich die Entourage daran, und als Brigitte endlich von ihrem Mann geschieden ist, bittet Emmanuel sie um ihre Hand.

Die Hochzeit am 20. Oktober 2007 findet bewusst in Amiens statt, in aller Offenheit, mit einem gewaltigen Fest. Emmanuel ist 29, Brigitte 53. Ein Unterschied von 24 Jahren, getilgt durch offensichtliche Komplizenschaft, eine natürliche, selbstverständlich zelebrierte Liebe. Da sie geschieden ist, verweigert die Kirche die Trauung in der Kathedrale von Amiens.

Egal: Der Eheschluss ist ein – letzter – Sieg über die Konventionen, über die etablierte Ordnung, über all die Provinznotabeln, die jahrelang munkelten, eine angesehene Lehrerin mit drei Kindern verlasse nicht einfach ihren Mann, und schon gar nicht für einen Schüler. Man kann nur ahnen, wie oft Brigitte und Emmanuel diesen Satz gehört haben: "Ça ne se fait pas!" – das tut man einfach nicht!

Bilderbuchkarriere

Die beiden haben es nicht nur getan, sondern bis zum glücklichen Ende durchgezogen. Am Hochzeitsabend ergreift Emmanuel im Luxushotel Westminster des schicken Badeortes Le Touquet das Wort. Eine Videoaufnahme zeigt das Paar inmitten eines mondänen Publikums – mit Michel Rocard ist sogar ein Expremierminister dabei; Emmanuel hält eine bewegte Rede über "ein nicht ganz normales Paar" und sagt mit Inbrunst den wichtigsten Satz des Abends: "Ich danke euch allen, die ihr uns so akzeptiert, wie wir sind."

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Frauentag in Paris: Für den Präsidentschaftskandidaten und seine Frau und engste Beraterin ein Pflichttermin – Macron kommt gut an bei Wählerinnen.
Foto: Reuters / Gonzalo Fuentes

Seither ist das Paar untrennbar. In Le Touquet bewohnt es ein komfortables Stadthaus, mit einem Hund und viel Besuch von Brigittes drei Kindern, die zur gleichen Generation wie Emmanuel gehören; die jüngste, Tiphaine, zieht es sogar neben ihren Stiefvater in die Politik.

Die meiste Zeit verbringen "les Macron" in einer 80-Quadratmeter-Wohnung in Paris. Emmanuel arbeitet zuerst bei der Bank Rothschild und fusioniert Firmen. Der frühere Mitterrand-Berater Jacques Attali stellt den brillanten Eliteschulabsolventen und Investmentbanker dem Präsidenten François Hollande vor, und der holt ihn in sein Kabinett, macht ihn 2014 gar zum Wirtschaftsminister.

Bis Macron auf die Idee kommt, er könnte selbst Staatschef werden. Noch nicht 40, gibt er 2016 sämtliche Ämter auf, bildet aus seinen Initialen die Bewegung "En Marche!" (zu Deutsch etwa: Vorwärts!) und erklärt seine Kandidatur für das höchste Amt im Staat.

Madame sorgt für Inszenierung

Der Aufstieg ist fulminant, kometengleich, doch Brigitte Macron bleibt unverrückbar an seiner Seite. Sie begleitet ihn bei Wahlkampfausflügen aufs Land und zu mondänen "Dîners-en-ville" bei Milliardär Bernard Arnault, dem Chef des Luxusgüterkonzerns LVMH. Sie empfängt Journalisten, die einen Termin bei ihrem Mann haben, und verfolgt alle großen Wahlkampfmeetings aus der ersten Sitzreihe.

Die Auftritte inszeniert sie selbst. "Chéri, da sprichst du zu lang, du musst Pausen einlegen", bedeutet die ehemalige Lehrerin ihrem früheren Schüler, wie in einem Dokumentarfilm des Regisseurs Pierre Hurel zu sehen ist. "Greif nicht zu früh an, du hast keine Energie zu verlieren. Hier musst du deine Stimme heben. Jetzt taucht sie ab."

Macron nickt und passt die Textpassage an. Danach, auf der Bühne, ist er aber nur noch bei sich selbst. Mit beseeltem Blick und sonniger Aura zieht er das Publikum in seinen Bann, bis er sich zum Schluss gehen lässt und mit heiserer Stimme in den Saal schreit: "Vive la République, vive la France!"

Brigitte ist nicht nur Emmanuels Kommunikationsberaterin, sondern auch sein "Kompass", wie die beiden Journalistinnen Caroline Derrien und Candice Nedelec in ihrer Macron-Biografie festhalten. Die attraktive 63-jährige Französin hat so viel Energie, Charme und Temperament, dass sie es manchmal übertreibt. In einer Homestory der Illustrierten "Paris-Match" schwärmt sie, es sei unmöglich, Emmanuel zu widerstehen. Ihr Gatte sei "ein Kavalier, ein Mensch von einem anderen Planeten, ein Philosoph, ein Schauspieler, ein Schriftsteller, der noch nichts veröffentlicht hat". Um anzufügen: "Und ich, ich verwahre die Manuskripte."

Kein Revoluzzer, sondern Gentleman

Man kann sich vorstellen, dass die Macrons überall Stadtgespräch sind – nicht nur in Amiens. Mit einem bisweilen spöttischen Unterton werden sie bereits mit den Obamas oder den Kennedys verglichen. Hacker – möglicherweise aus Russland – streuten per Schmutzkampagne, Macron habe ein Verhältnis mit dem Vorsitzenden von Radio France, Mathieu Gallet. "Brigitte, mit der ich all meine Tage und Nächte teile, fragt sich, wie das möglich sei", lachte er vor Publikum die Gerüchte weg. "Wenn jemand ein Doppelleben mit Mathieu Gallet hat, muss es mein Hologramm sein."

Macron hat in den schwierigen Jahren vor seiner Heirat gelernt, mit Spießersprüchen umzugehen und auf heimtückische Attacken richtig zu reagieren – nämlich gar nicht oder frontal. Zu seiner unkonventionellen Beziehung meint er: "Ich betreibe die Grenzüberschreitung nicht um der Grenzüberschreitung willen." Macron ist kein Revoluzzer, er ist ein Gentleman.

Wenn seine Fans an seinen Meetings Gegenspieler wie François Fillon oder Marine Le Pen ausbuhen, stoppt er sie, als wäre er der Schulmeister: "Pfeift nie jemanden aus! Man baut kein politisches Projekt mit Pfiffen."

Auch wenn er sich nicht an die Konventionen hält: Manieren hat er. Gelernt hat er sie in seinem Elternhaus, verfeinert in den Pariser Salons. Macron ist ein pures Produkt der französischen Eliten – vom Lycée Henri IV über Sciences Po bis hin zur École nationale d'administration (ENA). Ein verpönter Hort stromlinienförmigen Verwaltungsdenkens, doch Macron steht auch in der Öffentlichkeit stolz dazu. Er steht auch zu seiner früheren Tätigkeit als Investmentbanker, ein Berufsstand, der in Frankreich nicht besser angeschrieben ist als der der Bürokraten.

Pariser Arroganz

In Südfrankreich streitet er einmal in Anzug und Krawatte mit zwei hemdsärmeligen Vertretern eines Volksauflaufs. In die Enge gedrängt, ereifert er sich: "Sie machen mir in Ihrem T-Shirt keine Angst. Die beste Art, sich einen Anzug zu leisten, ist zu arbeiten." Worauf einer antwortet: "Aber ich träume davon zu arbeiten, Monsieur Macron!"

Die Szene, die einer mitgefilmt hat, wird Macron noch heute als Pariser Arroganz angekreidet. Dabei wirkt er ehrlich betroffen, wenn er die Diskriminierung der Banlieue-Zonen anprangert und – ganz unfranzösisch – Bildungs- und Jobquoten für die Einwandererjugend fordert.

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Ganz unfranzösisch legt er sich auch mit den Staatsbeamten an, indem er ihre Rentenprivilegien stufenweise abschaffen will. "Die Gerechtigkeit muss in alle Richtungen spielen", sagt Macron, der sich nicht scheute, als Élysée-Sekretär seinen Vorgesetzten Hollande zu kritisieren: Dessen Plan, eine 75-Prozent-Steuer einzuführen, sei wie "Kuba ohne Sonne", lästerte er hinter vorgehaltener Hand.

Macron ist kein Revolutionär, das Gegenteil von Fidel Castro, auch wenn sein Bestseller "Révolution" (erschienen im November 2016) heißt. Sein Wahlprogramm ist biedere politische Mitte, wirtschaftlich führt es die keynesianische Linie von François Hollande weiter. Revolutionär ist nicht das Programm, sondern die Person.

Der 39-Jährige Politneuling, der noch nie einen Wahlkampf absolviert hat, will das alte Rechts-links-Schema, das Frankreich seit Beginn der Fünften Republik im Jahre 1958 beherrscht, im Alleingang aushebeln. Und während bisher das Bonmot des weisen Präsidenten François Mitterrand galt, eine Präsidentschaftskandidatur baue sich über zwei Jahrzehnte auf, ist seine Bewegung En Marche noch nicht einmal ein Jahr alt. Ein Blitzfeldzug à la Bonaparte. Der war auch schon mit 35 Kaiser. (Stefan Brändle aus Paris, 25.3.2017)