Bike-Bergsteiger Harald Philipp findet seinen Flow im Hochgebirge.

Foto: Manfred Stromberg

Der Fokus liegt auf der Lösung, dem Trail, nicht dem Abgrund, dem Problem.

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Es kommt nicht auf den Schwierigkeitsgrad an, um den Flow zu spüren.

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Innsbruck – Vor ziemlich genau 200 Jahren brach Karl Freiherr von Drais in Mannheim zur ersten Radtour aller Zeiten auf. Am 12. Juni 1817 fand die Jungfernfahrt der von ihm entwickelten Draisine, einer Art Laufrad für Erwachsene, statt. Ob von Drais dabei schon den Flow verspürte, ist nicht überliefert. Angesichts des unaufhaltsamen Siegeszuges des Fahrrades scheint es aber sehr wahrscheinlich. Denn der Flow ist jenes Gefühl, das alle Radfahrer, egal ob auf der Straße oder im Gelände, eint.

Harald Philipp und Tom Öhler finden ihren Flow im Fels.
infinite trails

Kaum ein anderer hat sich so eingehend mit dem Phänomen Flow befasst wie Bike-Bergsteiger Harald Philipp. Der 33-jährige gebürtige Deutsche lebt seit über zehn Jahren in Innsbruck. In der Mountainbike-Szene ist er für seine spektakulären Gipfelbefahrungen und Abenteuertouren bekannt. Wenn er nicht gerade am Berg unterwegs ist, tourt er mit seinem Multimedia-Vortrag zum Thema Flow durch die Lande. Philipp hat vor gut zwei Jahren damit begonnen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wobei es eine simple Frage war, die den Anstoß dafür gab: "Ich wollte wissen, warum Mountainbiken solchen Spaß macht."

Er beschreibt den Flow als eins sein mit Fahrrad: "Das geht so weit, dass ich das Gefühl habe, ich würde den Boden selbst angreifen, wenn der Reifen darüber rollt. Ich bin voll fokussiert. Und zwar so sehr, dass nichts mehr zählt außer das, was da gerade passiert." So werden zweieinhalb Sekunden Wegstrecke zu einem ganzen Universum. Dabei stellt sich zugleich eine Leichtigkeit ein, die schwierigste Passagen zum Kinderspiel werden lässt und die von einem tiefen Glücksgefühl begleitet wird.

Die Innsbrucker Vertriders sind von der Suche nach dem Flow getrieben. Sie finden den ihren im hochalpinen Gelände, auf Wegen, die manch Wanderern weiche Knie bescheren würden.
VAUDE

Philipp zieht den Vergleich zum spielenden Kind, das voll und ganz in seiner Tätigkeit aufgeht: "Jeder, der das schon einmal erlebt hat, kennt den Flow." In seinen Vorträgen bezieht er sich auf die Flow-Theorie des Glücksforschers Mihály Csíkszentmihályi, der diesen Zustand 1975 erstmals wissenschaftlich untersucht hat. In der Spielwissenschaft war das Phänomen schon vorher beschrieben, aber nicht so benannt worden. In der Theorie wird der Flow als eine Art Weltvergessenheit bezeichnet, die ekstatisch oder trance-ähnlich ist. Doch eine allgemeingültige Definition ist schwierig, da der Zugang und das Erlebnis sehr individuell sind.

Spitzensportler wie Philipp finden das Flow-Erlebnis darin, an ihre Grenzen zu gehen. Bei Hobbybikern funktioniert der Zugang aber ganz ähnlich, wie er sagt: "Ich stelle mir das wie eine gedachte Seifenblase vor, die uns umgibt. Das ist unsere Komfortzone. Der Bereich außerhalb ist Angst. Und genau an diesem hauchdünnen Rand der Seifenblase liegt der Flow." Für ihn sei der Weg zum Flow immer das ein wenig Hinausreichen aus dieser Seifenblase in die Angst. Aber diese Grenze ist nicht statisch, sie verändert sich permanent, indem sich das Verhältnis Komfort- zu Angstzone verschiebt, je öfter man eine Tätigkeit, in dem Fall eben Mountainbiken, ausübt. "Wenn du nach Flow strebst und ihn erreichst, entwickelst du dich automatisch weiter."

Chris Akrigg, einer der begnadetsten Mountainbiker überhaupt, macht Flow sichtbar.
Chris Akrigg

Das Glücksgefühl des Flow setzt immer erst nachträglich ein. Im Moment der Tätigkeit, die es auslöst, ist der präfrontale Cortex im Gehirn, der für die situationsangemessene Handlungssteuerung verantwortlich ist, nicht sehr aktiv. "Die Selbstbeobachtung funktioniert nicht, weshalb wir Mountainbiker den Flow im Nachhinein oft am Weg festmachen, den wir gefahren sind", erklärt Philipp.

Suchtfaktor Flow

Unbestritten ist der Suchtfaktor des Flow-Gefühls. Wer es einmal auf dem Bike erlebt hat, will es immer wieder spüren. Hier zeigt sich auch der Unterschied zum Adrenalinkick, der oft als Antrieb für extreme sportliche Leistungen vermutet wird. Für Philipp zwei völlig verschiedene Ansätze: "Adrenalin macht einen zwar sehr handlungsfähig und wach, aber im Gegensatz zum Flow löst es kein schönes Gefühl aus. Jeder, der schon mal einen Auffahrunfall erlebt hat, kennt das." Im Gegensatz zum Adrenalinkick geht der Flow mit Endorphinen und Glücksmomenten einher, er kommt einer Belohnung gleich.

Um sein Flow-Gefühl zu kultivieren, empfiehlt Philipp, in der Seifenblase der Komfortzone nicht allein in eine Richtung zu drücken: "Es geht nicht nur darum, immer schwierigere Stellen zu fahren. Darum ist Mountainbiken für mich die ideale Flow-Aktivität, weil es so vielseitig ist." Eigens für den Flow konzipierte Trails, wie etwa die Teäre Line in Sölden, sind für ihn so ein Beispiel: "Dort hat der Anfänger ebenso Spaß wie der Profi." Aber auch auf der hundertfach befahrenen Hausrunde kann sich der Flow immer wieder einstellen, wenn die Herangehensweise passt.

Tim Pierce beschreibt in seinem Video, warum der Flow jeden, der sich ihm hingibt, egal ob Profi oder Anfänger, auf dieselbe Weise packt.
Tim Pierce

Denn eines ist klar: Flow lässt sich nicht erzwingen. Ähnlich wie beim Zustand tiefer Meditation muss man sich darauf einlassen. Sieht man sich Philipps Videos an, ist dem Normalbiker unklar, wie sich dort Flow einstellen kann. Doch er beschreibt das so: "Ich hab Höhenangst, vor allem zu Fuß. Aber sobald ich auf mein Bike steige, fokussiere ich nicht mehr auf das Problem, also den Abhang. Ich wechsle zur optimistischen Sichtweise und sehe nur mehr die Lösung, also den Weg." Dann befinde er sich im Dreieck zwischen der Herausforderung, den Fragen, ob er sie meistern kann und meistern will. Genau hier findet Philipp seinen Flow, wenn er Motivation und Fähigkeit mit einer externen Herausforderung in Balance bringt.

Stress als Flow-Killer

So individuell der Zugang zum Flow ist, so vielfältig sind die Faktoren, die ihn verhindern. Gerade Hobbybiker scheitern oft an ihren zu hohen Ansprüchen. Wer nur auf Höhenmeter und Wattleistung aus ist, bei dem wird sich das Gefühl gar nicht erst einstellen. Philipp empfiehlt daher, den Alltagsstress hinter sich zu lassen, wenn man aufs Bike steigt: "Unsere Welt ist von Produktivität und Geschwindigkeit bestimmt. Das Schöne am Mountainbiken ist, dass man all das für eine Weile ausblenden kann." Muse und Leidenschaft sind für ihn die beiden Grundvoraussetzungen, um den Flow zu erleben. Ob am ausgesetzten Singletrail im Hochgebirge oder dem einfachen Waldweg, spielt dabei keine Rolle: "Den Flow hat jeder in sich. Man muss sich ihm nur hingeben." (Steffen Arora, 28.3.2017)