Genf – Cochlea-Implantate können Gehörlosen wieder das Hören ermöglichen – vorausgesetzt, der Hörnerv ist noch aktiv. Allerdings funktionieren diese Hörprothesen bei fünf bis zehn Prozent der betroffenen Erwachsenen nicht gut. Forscherinnen aus Genf und Paris haben nun herausgefunden, welcher verblüffende Effekt dahintersteckt: Das Gehirn der Betroffenen habe sich auf Geschriebenes spezialisiert.

Wer das Gehör verliert, passt sich an die neue Situation an. Während die meisten Lippen lesen lernen, stützen sich manche mehr auf Geschriebenes und werden zu regelrechten "Super-Lesern". Das klingt nach einer sehr nützlichen Fähigkeit – es kann aber auch einen gravierenden Nachteil mit sich bringen, berichten Diane Lazard vom Institut Vernes und Anne-Lise Giraud von der Universität Genf im Fachblatt "Nature Communications": Hörprothesen zeigen bei diesen Menschen nur eingeschränkt Wirkung.

Die Studie

Die beiden Forscherinnen haben untersucht, wie das Gehirn von Gehörlosen den Klang eines gesprochenen Wortes verarbeitet. Weiter ging es darum, wie es diese Darstellung des Klangs im Gehirn nach Erhalt eines Cochlea-Implantats wiederverwerten kann.

Für die Studie sollten 18 gehörlose und – zum Vergleich – 17 hörende Probanden bei einer Reihe von nicht gleich geschriebenen Wortpaaren entscheiden, ob sie sich reimten oder nicht. Ein Beispiel wären die Wörter "Kraftwerke" und "Stromstärke". Die Studienteilnehmer mussten dafür auf ihre Erinnerung an Klänge zurückgreifen. Die Hirnaktivität dabei untersuchten die Forscherinnen mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI).

Unterschiedliche Hirnaktivitätsmuster

Einige der gehörlosen Probanden lösten die Aufgabe schneller und besser als die Hörenden. Lazard und Giraud erklärten das so: Ihr Gehirn hat sich von mündlichem auf schriftlichen Austausch umgestellt und zeigte im Versuch entsprechend angepasste Hirnaktivitätsmuster. Dadurch können sie Geschriebenes schneller erfassen und verarbeiten als Hörende, werden somit zu "Super-Lesern".

Die anderen gehörlosen Probanden, die die Aufgabe gleich schnell lösten wie die hörende Kontrollgruppe, hatten das Lippenlesen gelernt und waren dadurch im mündlichen Austausch verankert geblieben, schrieb die Uni Genf. Das zeigte sich auch an ihrer Hirnaktivität, die mehr der von Hörenden glich.

Rechtzeitiges Erkennen ist wichtig

Die "Super-Leser" haben den Nachteil, dass bei ihnen die Hörprothesen nicht funktionieren. Ob sich die Anpassung des Gehirns auf Geschriebenes wieder rückgängig machen ließe, ist laut Hazard noch schwierig zu sagen. Die Idee sei aber auch, im Voraus erkennen zu können, welche Personen mit Hörverlust mehr zum Geschriebenen tendieren und ihnen aktive Mittel anzubieten, um den Bezug zum Mündlichen nicht zu verlieren.

"Wir wissen nicht, warum bestimmte Personen unbewusst die eine gegenüber der anderen Richtung bevorzugen", sagte Giraud. Veranlagung spiele aber sicher eine Rolle: Wer auditive und visuelle Reize besonders gut integriere, bleibe auch bei Hörverlust wahrscheinlich mehr mit der mündlichen Kommunikation verbunden.

Die Resultate deuteten auch darauf hin, wie wichtig es sei, gehörlos geborene Kinder möglichst innerhalb der ersten Monate ihres Lebens mit einer Hörprothese auszustatten: Also bevor sich die Schaltkreise zur visuellen und auditiven Verarbeitung im Gehirn neu organisieren und sich ihr Zugang zur Mündlichkeit dadurch erschwert. (APA, red, 28. 3. 2017)