Unter Depressionen leiden: ein Zustand, in dem Innen- und Außenwelt plötzlich nicht mehr in Einklang gebracht werden können.

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Es ist das Jahr 1957. Der Schweizer Pharmahersteller Geigy testet gerade ein neues Medikament für die Behandlung von Psychosen bei Patienten mit Schizophrenie. Zwar verschwinden die Wahnsymptome nicht, sehr zum Verdruss der Forscher, dafür scheint sich aber die Stimmung der Probanden aufzuhellen.

Doch die äußerst glückliche Entdeckung des ersten Antidepressivums sorgt bei Geigy keineswegs für Euphorie. Die Firma sieht depressive Störungen schlicht als seltene Erkrankung an. Gerade einmal 50 bis 100 von jeweils einer Million Menschen sollen an einer schweren Depression leiden. Geigy zögert mit der Zulassung des Medikaments, weil man der Ansicht ist, es gäbe für Antidepressiva keinen lohnenswerten Markt.

Die Zeiten haben sich geändert: Heute leiden laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit mehr als 300 Millionen Menschen an Depressionen – ein sprunghafter Anstieg, der vor allem darin begründet liegt, dass psychische Störungen häufiger als früher als solche erkannt werden.

Erste Anlaufstelle Hausarzt

Behandelt werden die Betroffenen dabei zunehmend mit Medikamenten. Rund zehn Prozent der Bevölkerung bekommen Antidepressiva verschrieben – in Österreich entspricht das 800.000 bis 900.000 Menschen. Natürlich fallen darunter auch Verschreibungen für Angst-, Panik- und Zwangsstörungen. Doch ein großer Teil der Medikamente soll Patienten aus dem Loch einer Depression heraushelfen.

Oft sind es dabei nicht Psychiater selbst, die zum Rezeptblock greifen, sondern Hausärzte oder Internisten. Der Grund: In ganz Österreich gibt es weniger als 150 Psychiater mit einem Kassenvertrag. "Die Heerscharen von psychisch Kranken kann dann natürlich nicht der Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin behandeln", sagt Siegfried Kasper, Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Wien.

Die erste Anlaufstelle sind daher die Hausärzte. Kasper sieht das nicht als Problem an. Er findet es im Gegenteil gut, dass sich die Hausärzte um seelisch Erkrankte kümmern. Aber sie müssten sich zu Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen fortbilden. Kasper glaubt, dass die Hausärzte in Österreich die Versorgung von psychisch Kranken schon heute gut hinbekommen. "Eine Depression ist letztlich nicht schwieriger als Bluthochdruck zu behandeln."

Doch längst nicht alle Experten sind so optimistisch. Kritiker befürchten, dass die Fachkenntnis der Hausärzte nicht ausreicht, eine Depression von einer schwierigen Lebensphase zu unterscheiden. Gerade unter Zeitdruck könnten sie so schnell einmal ein Rezept ausstellen, um ihre Patienten nicht mit leeren Händen aus der Praxis zu entlassen.

"Antidepressiva werden oft zu leichtfertig verschrieben", sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie und der Cochrane-Österreich-Zweigstelle an der Donau-Universität Krems. Dass womöglich nicht psychiatrisch ausgebildete Ärzte den Großteil der Rezepte ausstellen, könne einer der Gründe sein, warum Antidepressiva zu den meistverschriebenen Medikamenten in Europa zählen.

Wirkung und Nebenwirkung

"Vielen Ärzten scheint nicht klar zu sein, dass die Medikamente alles andere als harmlos sind." Und dann weist Gartlehner auf einen Aspekt hin, der fast zwangsläufig im Gespräch über Antidepressiva zur Sprache kommt: die Nebenwirkungen der "Glückspillen". In seinen eigenen Studien hatten 60 Prozent der Patienten mit Nebenwirkungen zu kämpfen. "Gerade bei älteren Menschen kann es zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommen", fährt Gartlehner fort.

An sich eher harmlose Nebenwirkungen wie Schwindel könnten bei ihnen dramatische Auswirkungen haben. Die betagten Patienten stürzen leichter und ziehen sich Knochenbrüche zu. Zu den schweren Nebenwirkungen zählt ein erhöhtes Suizidrisiko bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ein Risiko, auf das Studien seit Jahrzehnten immer wieder stoßen. Die Gründe hierfür liegen noch im Dunkeln.

So manche Nebenwirkungen wären vielleicht für Patienten noch akzeptabel, sofern ihnen die Tabletten einen echten medizinischen Mehrwert böten. Doch der steht mittlerweile zunehmend infrage. Ein Mann ist an diesen Zweifeln nicht ganz unschuldig: Irving Kirsch. Der Psychologe der Harvard Medical School hatte früher als Psychotherapeut seinen schwer depressiven Patienten gelegentlich selbst Antidepressiva empfohlen. Ging es den Patienten im Zuge der Einnahme besser, nahm er an, es sei den Wirkstoffen der Tabletten zu verdanken.

Doch es war schließlich Kirsch, der mit diversen Metaanalysen den Glauben an die spezifische Wirkung von Antidepressiva erschütterte. Kirsch wertete Studien der Pharmafirmen aus, mit denen sie sich bei der US-Arzneimittelbehörde FDA um Zulassung bewarben.

Obwohl Einzelstudien über die Jahre und Jahrzehnte hinweg immer wieder gute Ergebnisse für einzelne Medikamente lieferten, kam Kirsch zu einem anderen Ergebnis. Zwar demonstrierten auch seine Untersuchungen, dass es vielen Patienten nach der medikamentösen Behandlung besser ging, doch war es meist gleichgültig, ob sie ein echtes Medikament oder eine Zuckertablette eingenommen hatten. Nur bei schwer depressiven Patienten ging die Wirkung der Medikamente über die der Placebos hinaus.

Diskussion um Effekte

Die Untersuchungen erregten auch deshalb große Aufmerksamkeit in der Forschergemeinde, weil sich Kirsch nicht nur die Studien angeschaut hatte, die die Pharmafirmen freiwillig veröffentlicht hatten, er nahm auch jene unter die Lupe, die die Firmen unter Verschluss gehalten hatten und die in den Schubladen der FDA lagen.

Über die Jahre hat Kirsch immer wieder Kritik für seine Ergebnisse einstecken müssen. Zu seinen Kritikern zählt auch Siegfried Kasper, der Psychiater von der Med-Uni Wien. "In Studien, aber besonders in der klinischen Praxis haben sich Antidepressiva als sehr wirksam erwiesen", widerspricht er Kirsch. Natürlich gebe es in klinischen Untersuchungen einen Placeboeffekt, einen unspezifischen Effekt, der nicht auf die Wirkung der Wirkstoffe zurückzuführen ist.

In klinischen Studien würden schließlich auch die Patienten der Placebogruppe intensiv betreut. Es komme also der Faktor Arzt hinzu. "Wenn eine Erkrankung im Falle der leichten und mittelschweren Depression nicht so stark ausgeprägt ist, ist es natürlich viel schwieriger, einen Unterschied in der Wirksamkeit der Antidepressiva gegenüber einem Scheinmedikament festzustellen." Aber die Antidepressiva wirkten auch hier. "Irving Kirsch hat sich in seinen Metaanalysen verrechnet", ist Kasper überzeugt. Schaue man genauer hin, ergeben auch seine Auswertungen, dass Antidepressiva bei leichten und mittelschweren Depressionen helfen.

Faktor Placebowirkung

Doch es gibt in der Forschergemeinde auch viele, die Kirsch beispringen und die Zweifel an der Wirksamkeit für angebracht halten. So wie der deutsche Psychiater Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Schlosspark-Klinik Berlin, der an der deutschen Versorgungsleitlinie für Depression mitgearbeitet hat.

In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2016 im Fachblatt "Expert Review of Neurotherapeutics" verweist Bschor auf die unabhängige Bestätigung der Ergebnisse von Kirsch durch andere Wissenschafter. "Eine Untersuchung unter deutscher Beteiligung hat den Anteil des pharmakologischen Effektes an der Gesamtwirkung auf etwas mehr als 30 Prozent beziffert." Der Rest sei schlicht dem Placeboeffekt geschuldet.

"Antidepressiva sind leider keine Medikamente, die besonders gut wirken, und man muss sie sehr lange einnehmen", stimmt ihm Gerald Gartlehner zu. In seinen eigenen Metaanalysen haben sich Antidepressiva nur bei Menschen mit schwerer Depression als potent erwiesen.

"Und nur rund 60 Prozent der Patienten sprechen überhaupt darauf an", sagt er. Bei den restlichen 40 Prozent müsse man die Therapie wechseln oder ergänzen. "Bei Personen mit leichter Depression wirken sie meist überhaupt nicht besser als Placebo, haben aber nach wie vor dasselbe hohe Risiko von Nebenwirkungen."

Vorurteile gegenüber Medikamenten

Siegfried Kasper kann das nicht nachvollziehen. Oft fragen ihn Patienten mit leichten Depressionen, ob sie denn tatsächlich zu den Tabletten greifen sollen. Dann erklärt er ihnen, dass man ja auch einen leichten oder instabilen hohen Blutdruck behandeln und nicht erst warten sollte, bis der Betroffene einen Herzinfarkt oder einen Hirninfarkt erleidet.

"Bei psychisch Kranken müssen wir immer wieder mit Vorurteilen gegenüber Medikamenten kämpfen", berichtet er. "Die Seele scheint einem verbreiteten Verständnis nach irgendetwas Göttliches zu sein." Da dürfe der Menschen nicht darauf einwirken, und wenn überhaupt, dann nur durch Gespräche etwa in Form einer Psychotherapie. Das sei letztlich eine Diskriminierung der seelisch Kranken.

Für den Berliner Psychiater Tom Bschor ist es kein Zufall, dass Siegfried Kasper ein solch positives Bild der Psychopharmaka zeichnet. "Kasper ist eng mit der Pharmaindustrie verflochten", sagt Bschor. Insofern wundere es ihn nicht, dass er von der Wirksamkeit der Antidepressiva so sehr überzeugt ist. "Er glaubt an ihre Wirkung, das ist seine Überzeugung und nicht bloße Werbung." Tatsächlich fördern viele Untersuchungen zutage, dass finanzielle Beziehungen die eigenen Überzeugungen beeinflussen können.

Diskussion um Leitlinien

Die nationalen Leitlinien zur Behandlung von Depressionen haben in einigen Ländern auf die im Vergleich zum Placeboeffekt eher dürftige Wirkung von Antidepressiva reagiert. Die deutsche Leitlinie von 2015 etwa empfiehlt aufgrund des "ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses" Antidepressiva nicht generell in der Erstbehandlung von leichten depressiven Episoden.

Eine antidepressive Medikation sei einer Placebobehandlung kaum überlegen. Bschor gibt Patienten mit leichten Depressionen nur in Ausnahmen Antidepressiva – etwa, wenn sie zuvor eine schwere Depression hatten. Bei mittelschweren Formen wird gemeinsam mit den Patienten entschieden. "Bei schweren Depressionen geben wir einen klaren Rat für ein Antidepressivum, da es eben neben dem Placeboeffekt eine – wenn auch kleine – pharmakologische Wirkung gibt."

Psychotherapie als Option

Dem Kremser Mediziner Gerald Gartlehner zufolge muss ein Arzt die Indikation sehr sorgfältig stellen, bevor er ein Antidepressivum verschreibt. "Viele Patienten wissen gar nicht, dass es Alternativen zu Antidepressiva gibt." Gartlehner denkt dabei unter anderem an die Psychotherapie. Der Mediziner hat in diversen Untersuchungen verschiedene Formen dieser Behandlung mit Antidepressiva verglichen.

Die belastbarsten Ergebnisse hat er für die kognitive Verhaltenstherapie gefunden. Bei dieser Variante lernen Betroffene zu verstehen, wie ihre Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen daran mitwirken, eine Depression hervorzurufen oder zu verschlimmern. Die Patienten erfahren, wie sie kontraproduktive Gedanken wie "Ich bin wertlos und an allem selbst schuld" ersetzen.

Gartlehner fand nun keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Wirksamkeit von Antidepressiva und kognitiver Verhaltenstherapie – egal, wie stark die Depression ausgeprägt war. Die Behandlung mit Antidepressiva hatten Patienten aber aufgrund der Nebenwirkungen öfter abgebrochen. "Aus meiner Sicht ist die kognitive Verhaltenstherapie damit eine echte Alternative zu Antidepressiva."

Zu wenig Plätze

Für andere Psychotherapien gebe es eine ähnliche Tendenz, hier seien aber eben die Ergebnisse nicht im selben Maße belastbar wie im Falle der kognitiven Verhaltenstherapie. Auch für Siegfried Kasper ist Psychotherapie ein wichtiger Baustein in der Behandlung von Depressionen.

Tatsächlich bevorzugt ein Teil der Patienten eine Psychotherapie gegenüber Medikamenten, nicht nur wegen der Nebenwirkungen der "Stimmungsaufheller". Die Psychotherapie steht im Ruf, eine nachhaltigere Wirkung zu erzielen. Doch bevor sie überhaupt mit einer Behandlung loslegen können, müssen Patienten in Österreich einige Hürden überwinden: Bislang ist es für die Betroffenen eine Frage des Glücks, ob sie eine von der Krankenkasse finanzierte Psychotherapie oder nur einen geringen Kostenzuschuss erhalten – je nachdem, aus welchem Bundesland sie kommen bzw. bei welcher Krankenversicherung sie Mitglied sind.

Zudem müssen sie teilweise monatelang auf einen Therapieplatz warten. So lange können Patienten mit massiven Depressionen nicht warten. Ärzte haben noch einen Trumpf im Ärmel: Eine immer besser untersuchte Maßnahme gegen die klinische Schwermut ist sportliche Betätigung. Regelmäßige Bewegung hat mittlerweile unter Experten einen guten Ruf – als natürliches Antidepressivum. (Christian Wolf, CURE, 27.4.2017)

Originalpublikation

Are antidepressants effective? A debate on their efficacy for the treatment of major depression in adults