Künstler Giuseppe Rosato vor seiner reparierten Jesus-Figur.

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Die Heiligenfiguren aus Pappmaché sind in Lecce oft mehrere Hundert Jahre alt. Lebensgroße Exemplare werden noch immer gerne für Prozessionen gekauft, weil sie leichter zu tragen sind als die Varianten aus Holz.

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Nein, das ist kein Albumcover von Slayer, sondern Bestanteile von Heiligenfiguren aus dem Atelier von Mario Di Donfrancesco.

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Di Donfrancesco bei der Arbeit

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Giuseppe Rosato versorgt die Wunden von Jesus. Dort, wo es am schlimmsten ist, bringt er große braune Pflaster an. "Eines Tages wird er sich bei mir dafür bedanken", scherzt der kleine untersetzte Italiener. Dann packt er Jesus, der einen Kopf größer ist als er, an der Taille und stellt ihn auf die Straße, wo die Sonne den engen Gassen bereits ordentlich einheizt. "Draußen trocknet der Herrgott schneller."

Rosato ist Handwerker, Restaurator, Sozialarbeiter – vor allem aber ist er Cartapesta-Künstler, der in der Bottega d'Arte di Don Francesco im italienischen Lecce Erstaunliches aus Draht, Stroh und Karton hervorbringt: Heiligenfiguren. In seiner Werkstatt lehnt sich Gottesmutter Maria lässig an Don Bosco. Von oben lächelt ein Erzengel herab. Dutzende Figuren haben sich zu einer stillen Prozession versammelt. Man würde jede Wette eingehen, dass sie aus Holz sind. Erst wenn man Maria ganz tief in die Augen blickt, sieht man, dass sie aus Pappmaché gefertigt wurde. Das Gesicht ist ein wenig eingedrückt, die Papierschichten liegen offen. Jesus erging es ähnlich, deswegen wird er jetzt mit braunem Packpapier und Klebstoff wieder zusammengeflickt.

Schutzpatrone auf Kur

Lecce ist die einzige Stadt in Italien, vermutlich in ganz Europa, in der die Cartapesta-Künstler noch aktiv sind. Die Aufträge für die Werkstätten, von denen es noch ein Dutzend gibt, kommen aus aller Welt. Das Kerngeschäft liegt aber vor der Haustüre: Gut 100 Kirchen, also eine pro 1.000 Einwohner, befinden sich nach Auskunft der Provinzregierung in der Stadt am Stiefelabsatz, die im 18. Jahrhundert den Beinamen "città-chiesa" (Kirchenstadt) erhielt. Von einer Ausnahme abgesehen sind alle mit Pappmaché-Heiligen ausgestattet. Selbst die Stuckengel haben einen Kopf aus Karton. Sie halten überraschend lange, aber nach 200 oder 300 Jahren brauchen auch die hartnäckigsten eine Schönheits-OP.

In der Zeit rund um Ostern und Pfingsten pilgern viele Katholiken aus Italien und ganz Europa nach Lecce. Manche von ihnen kommen gezielt in die Cartapesta-Werkstätten, um ihren Schutzpatron abzuholen, der eine kleine Kur hinter sich hat. Oder sie holen eine neue Figur ab, die sie bei Giuseppe oder einem Kollegen in Auftrag gegeben haben und bei einer Prozession voller Stolz vor sich hertragen wollen. Das Geschäft mit den lebensgroßen, transportablen Heiligen ist das zweite wichtige Standbein für die Cartapesta-Künstler in Lecce. Schließlich lässt sich ein Bonifazius aus Pappmaché doch leichter durchs Dorf tragen als der hölzerne Antonius. Die Prozessionsfiguren können mehrere Tausend Euro kosten, bestehen sie doch aus bis zu zehn Schichten Papier. Ein Künstler arbeitet in der Regel zwei bis drei Monate daran.

Ein Fest für den Stadtheiligen

Zunächst formt der Handwerker das Skelett aus Draht, umwickelt es mit Stroh und trägt das Pappmaché auf. Dieses wiederum besteht aus Packpapier, das in einer Mischung aus Mehl und Wasser aufgeweicht ist. Schicht für Schicht geht es voran, die Figur muss stets trocknen. Am Ende kommt eine gipsartige Masse oder Kreidemischung drauf, der Heilige strahlt dann in unschuldigem Weiß und kann entsprechend bemalt werden.

Rosato verfolgt akribisch jeden Arbeitsschritt seiner Jünger. Schließlich sollen die rund 20 Mitarbeiter mit Gottes Hilfe wieder auf den richtigen Weg kommen. In der Bottega d'Arte di Don Francesco arbeiten auch schwer erziehbare Jugendliche ohne Ausbildung und sonstige Arbeit. So mancher sei nach Aussage von Rosato reumütig geworden und bete seither zu Sant'Oronzo, dem Stadtheiligen von Lecce, der auf einer Säule hoch über dem Hauptplatz der Stadt thront. Jedes Jahr Ende August gibt es ein großes Fest zu seinen Ehren, das drei Tage dauert. Als Besucher kommt man besser in der Nebensaison im April und Mai oder im Herbst. Auch dann erlebt man Lecce als lebendige Stadt, als sonnenverwöhnte, dralle Königin des Barock, die ihre Rundungen zeigt und ein Kleid mit ausladenden Ornamenten trägt.

Leere Kassa, volle Decke

Hunderte gut erhaltene Palazzi und noch mehr Balkone gibt es im historischen Zentrum zu sehen, wo Grabungen eine Zeitreise in die Geschichte Apuliens ermöglichen, die 200.000 Jahre bis in die Altsteinzeit zurückführt. Römer, Griechen, Spanier und Araber eroberten die Stadt und hinterließen ihre Spuren. Aus griechischen Tempeln wurden römische, und schließlich machte man Kirchen daraus. Zu den auffälligsten Exemplaren zählt die Chiesa di Santa Chiaria, die ein Nonnenorden im 18. Jahrhundert umbauen ließ.

Die frommen Frauen schmissen mit Geld nur so um sich, spendierten jedem Altar und jeder Figur eine üppige Schicht aus Blattgold. Als es aber daran ging, den Deckenschmuck zu bestellen, war die Kassa leer. Also erhielten die Handwerker in Lecce den Auftrag, es mit Pappmaché zu versuchen. Am Ende flammten die schlauen Künstler die Oberfläche gar ab, um dem Ganzen einen Holz-Touch zu verleihen, der noch heute täuschend echt aussieht.

Lichtkugeln wie ein Korsett

Auch Francesca Carallo ist jedes Mal begeistert, wenn sie in Santa Chiaria steht und den Kopf in den Nacken wirft. Dabei ist der althergebrachte Stil eigentlich gar nicht der ihre. Lange Zeit hat sie selbst Heiligenfiguren aus Pappe geformt. "Aber die Arbeit war mir zu stupide, zu langweilig. Da kann man keine Kreativität ausleben."

Carallo begann in ihrem Atelier, das gleich hinter der Via arte della cartapesta liegt, zu experimentieren. Formte Säulen aus Papierbögen, webte Teppiche aus selbstgedrehten Papierschlangen und war auf einmal eine gefragte Künstlerin. Mittlerweile stellt sie auch in Mailand aus. Besonders begehrt sind ihre großen Lichtkugeln, für die sie ein Korsett mit hunderten kleinen Öffnungen über eine Lampe stülpt. Kunden aus aller Welt kommen zu ihr. Sie muss nicht mehr um Laufkundschaft werben wie die anderen Cartapesta-Künstler, die Christus und San Giovanni in die engen Gassen stellen, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Giuseppe Rosatos Jesus-Figur hat den Tag gut überstanden. Ihre Pflaster sind getrocknet, und währenddessen hat sie ein paar Touristen in die Werkstatt gelockt, die keine Ahnung hatten, dass in Lecce Papierheilige verehrt werden. Tags darauf werden sie ihre stumme Prozession wieder von neuem antreten. (Christian Schreiber, 2.4.2017)