Primärversorgung in Enns, Arztpraxis als Nahversorgungsmodell im Burgenland, Anlaufstelle für Kinder mit Autismus in St. Pölten und eine Gruppenpraxis in Mariazell –Österreichs Gesundheitssystem passt sich an die Bedürfnisse der Menschen an.
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Pioniere braucht das Land: Zentrum für Primärversorgung in Enns

Nicht immer ist ein Spital die richtige Anlaufstelle. Was in vielen Ländern Standard ist, ist in Österreich noch Rarität: Primary-Health-Care-Zentren, kurz PHC, als erste Stufe einer wohnortnahen Versorgung. Die Idee: Verschiedene Gesundheitsberufe arbeiten in einer Ordination zusammen, beraten sich in schwierigen Fällen. Die Öffnungszeiten sind so, dass Berufstätige auch nach der Arbeit kommen können. Ein Terminsystem verhindert Wartezeiten. Die Patienten haben mehrere Angebote an einem Ort. Im Idealfall ist dieser mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar und hat genügend Parkplätze vor der Tür. Eine Apotheke und ein Bandagist runden das Angebot ab.

Im oberösterreichischen Enns wurde jüngst ein PHC-Zentrum eröffnet. In einem 800 m2 großen Neubau arbeiten sechs Allgemeinmediziner, zwei Diplomkrankenschwestern, vier Ordinationsassistentinnen, ein Psychologe und zwei Physiotherapeuten Tür an Tür. Ergänzt wird das Team durch Teilzeitstellen für Diätologie, Ergotherapie, Logopädie, Geburtshilfe und Sozialarbeit. Ein Manager kümmert sich um betriebswirtschaftlichen Angelegenheiten, um Terminplanung und Arbeitszeiten.

Die Patienten profitieren von langen Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 7 bis 19 Uhr und zusätzlich an zwei Tagen bis 21 Uhr. Zudem ist die Ordination jeden dritten Samstagvormittag durch einen hausärztlichen Notdienst besetzt. Mit dieser Ausstattung ist das PHC in Enns, so behaupten die Initiatoren, das erste "richtige" Primärversorgungszentrum in Österreich.

Zunächst wird es als fünfjähriges Pilotprojekt laufen und gemeinsam von der Gebietskrankenkasse, dem Land Oberösterreich und der Stadt Enns finanziert. Rechtlich ist es eine GmbH im Eigentum der Ärzte, die anderen Gesundheitsberufe sind angestellt oder als Freiberufler angegliedert. In einer Evaluation will man feststellen, ob sich das Modell bewährt.

Das Konzept wird von der Bevölkerung gut angenommen. Pro Tag kommen zwischen 500 bis 600 Patienten. "Ich freue mich, dass wir dieses Projekt verwirklichen konnten", sagt Wolfgang Hockl, seit Jahrzehnten als Hausarzt in Enns tätig. Er ist einer der Pioniere, ohne die solche Innovationen nicht möglich wären. Oft an der Grenze seiner persönlichen Belastbarkeit, hat er neben seinem Fulltimejob das Zentrum mit Partnern und Finanziers auf die Beine gestellt.

Eine Bedarfsplanung und Know-how im Praxismanagement waren wichtige Faktoren. "Wir wollen hier eine neue Medizin für unsere Patienten machen und für Kollegen bessere Arbeitsbedingungen schaffen", sagt Hockl. Teamarbeit und Vernetzung hält er für essenziell. Damit hofft er auch, Jungmediziner für die Allgemeinmedizin begeistern zu können und somit die hausärztliche Versorgung in Zukunft zu sichern.

Mit Leib und Seele: Arzt mit Lebensmittelanschluss

Minihof-Liebau ist ein idyllischer Ort im südlichen Burgenland – dort, wo immer weniger Leute wohnen, weil die Jobs woanders sind. Das Dorfgasthaus hat wegen chronischen Gästemangels seit Jahren geschlossen. Doch seit kurzem ist dort neues Leben eingekehrt. Ernst Eicher hat den Laden übernommen und verkauft Bioprodukte aus der Umgebung: Gebäck, Mehl, Käse, Fleisch. "Wir wollen eine Nahversorgung bieten und die Aktivitäten der lokalen Bevölkerung fördern." Greißler ist er allerdings nur im Nebenerwerb, im Hauptberuf ist Eicher Haus- und Gemeindearzt in Minihof-Liebau.

Die Praxis führt er mit seiner Frau, die sich als Ärztin auf Psychotherapie und Vorsorgemedizin spezialisiert hat. Zum Team gehören vier Mitarbeiterinnen sowie drei freiberufliche Masseurinnen und eine Ergotherapeutin, die tageweise in die Praxis kommen. Seinen Zugang zu Medizin bezeichnet Eicher als "biopsychosozial": Die ganzheitliche Betrachtung des Menschen und die Konzentration auf die förderlichen Faktoren für die Gesundheit sind für seine Arbeitszufriedenheit wichtig. Die Hausapotheke, so Eicher, ermögliche ihm die wirtschaftliche Führung der Praxis.

Zehn Ärzte gibt es derzeit im Sprengel, sechs Allgemeinmediziner und vier Fachärzte. Die Zusammenarbeit ist gut, doch die Nachbesetzung von Kassenstellen werde immer schwieriger. Der Kinderarzt hat aufgehört, Nachfolger ist nicht in Sicht. Die Ordination des Frauenarztes ist verwaist. Für die Bevölkerung bedeutet das mühsame Anreisen.

Gemeindearzt Eicher und seine Kollegen machen sich Gedanken, wie man die Versorgung in der Region verbessern kann, wie die Patienten eine wohnortnahe Behandlung bekommen. "Unser Gesundheitssystem hat viele Vorteile, aber es müssten auch einige Scheuklappen entfernt werden", sagt Eicher. Wenn die Krankenkasse für eine Leistung zum Beispiel 2,70 Euro zahlt, dann lohne kaum der Aufwand, das in den Computer einzugeben. "Wir sollten versuchen, das Krankenkassensystem zu verbessern, indem wir die positiven Seiten weiterentwickeln und die frustrierenden entschärfen."

Gemeinsam mit seinen ärztlichen Kollegen stellt Eicher Überlegungen zur Zukunft der Gesundheitsversorgung in ihrer Region. Sie wollen sich noch besser vernetzen und die Leistungsangebote und Öffnungszeiten optimaler abstimmen. Mit seiner Ordination will Eicher demnächst in das ehemalige Dorfgasthaus übersiedeln, unter ein Dach mit seiner Greißlerei und einem geplanten Kommunikationstreff. Neben der Arztpraxis mit Hausapotheke werden dort auch Physio-, Ergo-, Psycho- sowie Schmerztherapie und Diabetesschulungen angeboten werden. Nicht zu vergessen Brot, Käse und Biofleisch, also alles für Leib und Seele.

Anlaufstelle für Sorgenkinder: Neues Autismuszentrum in St. Pölten

Wer mit Sonja Gobara spricht, merkt, dass sie für ihre Sache brennt. Seit zehn Jahren leitet die Kinderärztin und Psychotherapeutin das Ambulatorium Sonnenschein in St. Pölten, ein Diagnose- und Therapiezentrum für Kinder mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen. "Unser Einzugsgebiet reicht bis ins Waldviertel hinauf", sagt sie. Rund 1700 Kinder und deren Familien werden jährlich behandelt – kostenfrei. Krankenkassen und Land Niederösterreich finanzieren dies gemeinsam.

Ein interdisziplinäres Team von rund 50 Personen, darunter Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Frühförderer und Therapeuten, bieten eine breite Palette an Leistungen. "Bei uns stehen die Patienten im Mittelpunkt. Sie müssen nicht von einer Therapie zur anderen laufen, und die Kommunikation zwischen den Betreuenden funktioniert so auch viel besser", betont Gobara.

Das Angebot im Ambulatorium reicht von der Frühförderung über die Rehabilitation nach orthopädischen Operationen, Krebserkrankungen und Traumata, Rollstuhlparcours, Klettergarten, Therapieküche bis hin zum Musiktherapieraum. Da wird geschaukelt und gerutscht, gemalt, gesungen, gespielt, gelacht und geweint. Neben Einzeltherapien gibt es rund 50 Therapiegruppen, von denen Kinder mit Schwierigkeiten im Sozialkontakt profitieren. "Die große Zahl macht es möglich, dass wir für alle Altersgruppen und Indikationen passende Gruppen zusammenstellen können", sagt Gobara. "Das ist wertvoll, denn Kinder lernen oft auch voneinander."

Stolz ist Gobara auf das neue Autismuszentrum, das bald ein eigenes Gebäude bekommen soll. "Die Not der Kinder mit autistischen Störungen und ihrer Eltern ist unvorstellbar groß. Bisher waren sie auf sich gestellt." Obwohl die Eltern in den meisten Fällen sehr früh bemerken, dass ihr Kind eine besondere Betreuung braucht, erfolgt die Diagnose der unterschiedlichen Störungen des Autismusspektrums meist erst bei Schuleintritt. Pädagogen in Kindergärten und Schulen wissen nicht, wohin sie sich wenden können. Allein auf einen Termin für die diagnostische Abklärung warten viele bis zu einem Jahr, um dann zu erfahren, dass es keine Therapieplätze auf Krankenschein gibt.

"Es gibt große Lücken in der Versorgung der Kinder- und Jugendlichen in Österreich", klagt Gobara. Es gebe aktuell zwar positive Entwicklungen im Bereich Rehabilitation und bei den aufsuchenden Hilfen, "doch die Wartezeiten auf Diagnose- und Therapieplätze sind noch immer erschreckend". Die Nachfrage im neuen Autismuszentrum ist hoch. Da der Fokus auf früher Intervention bei schwer betroffenen Kindern liegt, werden vorwiegend Kinder unter sechs Jahren aus Niederösterreich in das Programm aufgenommen. Alle anderen Familien müssen so lange vertröstet werden, bis andere Bundesländer solche Einrichtungen schaffen.

Gesund im Wallfahrtsort: Gruppenpraxis statt Spital in Mariazell

Die Aufregung in Mariazell war groß, als vor rund sechs Jahren die Schließung des Krankenhauses mitten im Ortszentrum verkündet wurde. Das Spital hatte zu diesem Zeitpunkt zwar nur noch eine Interne Abteilung mit 30 Betten, in denen zumeist Pflegefälle betreut wurden, doch für die Bevölkerung des verkehrsmäßig abgeschnittenen Ortes war das Krankenhaus ein gesundheitlicher Sicherheitsfaktor.

Doch die Politik zog einen Schlussstrich unter das wirtschaftlich unrentable Unterfangen und richtete an der Stelle des Krankenhauses ein Erstversorgungszentrum mit vier Überwachungsbetten ein, das für Notfälle rund um die Uhr geöffnet hatte. Nur fünf bis sechs Patienten kamen pro Tag – ein Zeichen, dass die Bevölkerung mit dieser Lösung unzufrieden war.

Nun gibt es aber Hoffnung im Wallfahrtsort: Am 1. Oktober 2016 eröffnete im ehemaligen Spital ein Gesundheitszentrum, das von zwei Ärzten als Gruppenpraxis geführt wird. Unterstützung erhalten sie von zwei bis drei Kollegen, die Vertretungsdienste machen, einer freiberufliche Physiotherapeutin und einer Osteopathin. Einmal pro Woche kommt eine Sozialarbeiterin, in die ehemalige Krankenhausküche ist eine Apotheke eingezogen. Geöffnet hat das Gesundheitszentrum derzeit von Dienstag bis Sonntag von neun bis 19 Uhr. Bald soll am Montag offen sein.

"Ich halte die Bündelung der ärztlichen Kräfte für das Modell der Versorgung der Zukunft", sagt der Leiter des Zentrums, Allgemeinmediziner und Chirurg Patrick Killmaier. Bevor er sich an das Abenteuer "Gesundheitszentrum Mariazell" wagte, war er Chirurg im Krankenhaus Lilienfeld. "Der Beruf des praktischen Arztes ist vom Aussterben bedroht", sagt Killmaier. Viele Ärzte gingen demnächst in Pension, und für junge Kollegen seien die Landarztpraxen nicht mehr attraktiv. "Wenn wir nicht umdenken, haben wir bald weiße Flecken in der Versorgungslandschaft."

Auch für die Patienten seien Gesundheitszentren attraktiver. Sie ersparen Wegzeiten. Mit Labor und Ultraschall können Akutfälle gut diagnostiziert und viele davon auch gleich behandelt werden. Es gibt nachweislich weniger Krankentransporte und Spitalseinweisungen.

Rund 4500 Einwohner umfasst das Einzugsgebiet rund um Mariazell, und etwa 30 bis 40 Patienten kommen derzeit pro Tag in das neue Gesundheitszentrum. Zu reinen Kassentarifen wäre das allerdings nicht wirtschaftlich zu führen, schon gar nicht, wenn es sieben Tage die Woche geöffnet ist. Drei Jahre lang läuft das Gesundheitszentrum nun als Pilotprojekt mit einer gemeinsamen Finanzierung vom Bundesland Steiermark, der Sozialversicherung und der Gemeinde. Danach wird evaluiert und – so hoffen zumindest die Bewohner – weiterfinanziert. Sonst, so befürchten viele, könnte im Mariazellerland ein großer weißer Fleck auf der Versorgungslandkarte entstehen. (Andrea Fried, CURE, 10.4.2017)