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Ramsan Kadyrow ist seit 2007 Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Den ersten Medienbericht über die Repressionen dementierte sein Sprecher mit den Worten: "Man kann niemanden verhaften oder unterdrücken, den es in der Republik gar nicht gibt."

Foto: Mexim Shemetov/Reuters

Grosny/Moskau/Wien – Nachdem die russische Zeitung "Nowaja Gaseta" bereits am Samstag über eine Welle brutaler Razzien gegen Homosexuelle in Tschetschenien berichtet hatte, bei der über 100 Männer verhaftet und drei getötet worden seien, veröffentlichte sie nun neue Details, die jahrelange Folter und Erpressung schwuler Tschetschenen durch Polizeibeamte belegen sollen. Der Bericht enthüllt auch die Existenz eines Geheimgefängnisses für Homosexuelle, von dem der Sprecher des tschetschenischen Regionalparlaments und der Chef des Innenministeriums der russischen Teilrepublik wissen sollen.

"Prophylaktische Säuberung"

Seit zwei Jahren gebe es massive Repressionen aus immer nichtigeren Anlässen, die zunehmend brutaler würden. Die jüngste Verhaftungswelle Anfang März brachte dem Artikel von Jelena Milaschina zufolge der russische LGBT-Aktivist Nikolaj Alexejew ins Rollen, der in vier nordkaukasischen Städten Schwulenparaden abhalten wollte. Seine Anträge wurden erwartungsgemäß von den jeweiligen Stadtverwaltungen abgelehnt, doch die lokalen Medien griffen das Thema auf. Daraufhin kam es in sozialen Netzwerken und bei Straßenprotesten zur Äußerung massiver Ablehnung, bei der Homosexuelle auch mit dem Tod bedroht wurden. Zugleich sei in Tschetschenien der "Befehl zu einer prophylaktischen Säuberung" gegeben worden. Wer diesen ausgegeben haben soll, erwähnt Milaschina nicht.

Hotline für Betroffene

Am 29. März richtete eine LGBT-Organisation gemeinsam mit der "Nowaja Gaseta" eine Hotline ein, bei der sich bedrohte Homosexuelle im Kaukasus melden können. Die Geschichten dieser Personen stellen gemeinsam mit Zeugen, die sich direkt an die Zeitung wandten, das Material für den zweiten Artikel von Dienstagabend.

Darin wird von einer großen Verhaftungswelle Mitte Februar berichtet, die durch das Aufgreifen eines homosexuellen Drogensüchtigen von der Polizei ausgelöst wurde. Die in Tschetschenien routinemäßige Kontrolle von dessen Mobiltelefon förderte "eindeutige" Fotos, Videos und Nachrichten zutage. Die Telefondaten des Mannes bildeten die Basis für Razzien und Inhaftierungen. Als Alexejew wenige Wochen später um die Abhaltung einer Gay-Pride ansuchte, habe es bereits Tote gegeben.

Geheimes Gefängnis nahe Grosny

In den Berichten aller Opfer ist von einer ehemaligen Militärkommandantur in der tschetschenischen Kleinstadt Argun nahe der Hauptstadt Grosny die Rede, die als Gefängnis für Männer verwendet werde, die verdächtig seien, eine "nichttraditionelle" sexuelle Orientierung zu haben. Auch eine anonyme Quelle der tschetschenischen Regierung soll die Existenz der Haftanstalt belegt haben. Die "Nowaja Gaseta" veröffentlichte ein Luftbild der Anlage.

Einer der Zeugen beschuldigte den tschetschenischen Parlamentssprecher Magomed Daudow und den Chef des regionalen Innenministeriums, Ajub Katajew, die Razzien in Auftrag gegeben zu haben. Daudow soll regelmäßig in dem Gefängnis anwesend sein, wenn die Männer entlassen und ihren Familien übergeben werden.

In der inoffiziellen Haftanstalt würden neben Homosexuellen auch IS-Heimkehrer und Familienmitglieder jener Tschetschenen gefangen gehalten, die im Irak und Syrien kämpften. Die Männer berichteten, unter anderem mit Stromschlägen gefoltert und regelmäßig geschlagen worden zu sein. Alle männlichen Namen in der Kontaktliste der Verhafteten gelten als Verdächtige. Die Telefone blieben eingeschaltet, jeder Mann, der anrufe, gerate ebenfalls in den Radar der Polizei. Viele würden unter Vorwänden zu Treffpunkten gelockt und ebenfalls unter Druck gesetzt werden.

Systematische Erpressung

Aus Milaschinas Artikel geht hervor, dass die Repressalien auf zwei Ebenen stattfinden: Neben der offenbar von höherer Stelle angeordneten und mit logistischem Aufwand betriebenen Inhaftierung in Argun berichten Opfer von Erpressung und Demütigung durch Beamte in lokalen Polizeistationen, die sich daran belustigen und persönlich bereichern.

Diese Polizisten sollen gar kein Interesse daran haben, ihre Vorgesetzten über die "Verdächtigen" zu informieren, da ihnen bei Abgabe der Kompetenzen eine lukrative Einnahmequelle entzogen würde. Die Drohung, ihre "nichttraditionelle" sexuelle Orientierung öffentlich zu machen, bringt die Männer zum Stillhalten und zur Zahlung horrender Beträge. In der tiefpatriarchalischen nordkaukasischen Gesellschaft, in der der orthodoxe Islam vorherrscht, wäre das ein gesellschaftliches Todesurteil.

Die "Nowaja Gaseta" zeigt anonymisierte Bilder gefolterter Männer, die diese an die Zeitung geschickt haben, um ihre Aussagen zu belegen.

Skepsis in Moskau

Milaschina schreibt, dass die Veröffentlichung all dieser Vorwürfe in einem journalistischen Medium, was offiziell einer Anzeige gleichkomme, beim Russischen Ermittlungskomitee als oberster Strafverfolgungsbehörde bislang auf taube Ohren stieß. Die "Nowaja Gaseta" möchte sich jetzt an Generalstaatsanwalt Juri Tschaika wenden, der das Ermittlungskomitee zwingen soll, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wladimir Putins Sprecher Dmitri Peskow hat unterdessen angekündigt, die Vorwürfe prüfen zu lassen. (Florian Supé, 6.4.2017)