Natürlich ist es das Ziel aller Unternehmen, wenige Krankenstandstage in der Belegschaft zu haben. Aber: Dürfen diejenigen, die seltener krank sind, belohnt werden? In Deutschland sorgt Amazon deswegen aktuell für Schlagzeilen. In Österreich ist die sogenannte Anwesenheitsprämie unzulässig.

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Mitarbeiter der Versandabteilung des Amazon-Logistikzentrums in Pforzheim (Baden-Württemberg). Insgesamt gibt es neun Versandzentren in Deutschland. An bisher fünf Standorten haben die Betriebsräte einer Gesundheitsprämie zugestimmt.

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Es klingt wie ein Spiel: Wer keinen Tag im Monat krank ist, darf sich im Logistikzentrum von Amazon in Pforzheim Gold-Mitarbeiter nennen. Bei einem Tag Krankheit bleibt Silber, und für zwei Krankenstandstage bekommt man immerhin noch den Bronze-Status. Und natürlich sind Gold, Silber und Bronze nicht nur nette Auszeichnungen, daran ist auch Geld geknüpft. An fünf der neun Versandzentren des US-Unternehmens in Deutschland soll es solche Gesundheitsprämien geben. Die Message ist simpel: Wer seltener krank ist, bekommt mehr Geld. Laut "Süddeutscher Zeitung" können Angestellte ihr Bruttomonatsgehalt durch die Prämie um maximal zehn Prozent steigern – hier fließen leistungsbezogene Kriterien zu vier Prozent ein, die Gesundheit zu sechs Prozent.

Zulässig, aber "komplett ungerecht"

Dürfen das Arbeitgeber tun? In Deutschland schon. Auch andere Unternehmen machen von sogenannten Anwesenheitsprämien Gebrauch: Seit Jänner dieses Jahres bekommt zum Beispiel jeder Daimler-Mitarbeiter, der jeden Tag zur Arbeit geht, 200 Euro mehr pro Jahr. Einige Erfahrungswerte gibt es beim Sanitärarmaturenhersteller Grohe, wo es das Anreizsystem bereits seit Jahrzehnten gebe. Prämienberechtigt ist dort, wer weniger als 21 Tage im Jahr gefehlt hat. Der "Süddeutschen" sagte Personalvorstand Michael Mager: "Wir wollen damit die Verantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit unterstützen. Seit Einführung der Prämie ist die Zahl der Abwesenheitstage um ein Viertel bis ein Drittel zurückgegangen."

Hier haken die Kritiker ein. Als "komplett ungerecht" bezeichnet Anette Wahl-Wachendorf vom Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte das System. Ältere Mitarbeiter und chronisch Kranke würden überhaupt nicht berücksichtigt werden. Und auch die zuständige Gewerkschaft Verdi, die mit Amazon seit Jahren erfolglos über einen Tarifvertrag verhandelt, lehnt jede Form einer Gesundheitsprämie ab – vor allem weil Amazon noch einen Schritt weiter geht bei den Belohnungen. Es gibt demnach nicht nur einen individuellen Teil, sondern auch einen Gruppenanteil für die Belohnungen: Gibt es also in einer kompletten Abteilung weniger Krankenstände, profitiert jeder Einzelne davon. Die Gewerkschaft befürchtet, dass Mitarbeiter auf diese Weise gegeneinander ausgespielt werden und der Druck enorm steigt.

Weniger Unfälle

Vonseiten des US-Konzerns nennt man die Kritik "haltlos", auf konkrete Zahlen wolle man sich nicht festlegen. Stattdessen verweist die Konzernsprecherin Anette Nachbar auf Bemühungen im betrieblichen Gesundheitsmanagement wie spezielle Kurse, Sportgruppen und physiotherapeutische Betreuung für Mitarbeiter. Ziel des Bonusprogramms sei es, "im Sinne der Arbeitssicherheit im Betrieb eine Kultur der Achtsamkeit zu fördern. Sprich: zusammen mit vielen anderen Maßnahmen ein Verhalten zu fördern, das Unfälle vermeidet." In der Betriebsvereinbarung, die der "Süddeutschen" vorliegt, steht: "Ziel der Neugestaltung ist eine Reduktion der sogenannten paid-sickness-rate" – also der Krankenstandsquote.

Österreich: Gesundheit nicht abkaufen lassen

In Österreich gibt es bislang keine Amazon-Standorte. Und wie sieht es ganz allgemein bezüglich einer Belohnung weniger Krankenstandstage in Österreich aus? Arbeitsrechtsexperte Martin Risak: "Was Amazon in Deutschland macht, nennen wir verbotene Anwesenheitsprämie." In einer Entscheidung aus dem Jahr 1988 heißt es vom Obersten Gerichtshof beispielsweise, dass dem kranken Arbeitnehmer auf diese Weise nahegelegt werde, "auf seine Krankheit keine Rücksicht zu nehmen, sondern zu arbeiten, um finanzielle Einbußen zu vermeiden". Dem Arbeitnehmer dürfe seine Gesundheit aber nicht abgekauft werden. Denn, so heißt es weiter in der Entscheidung: "Durch einen bleibenden Schaden an der Gesundheit wäre nicht nur der einzelne Arbeitnehmer betroffen, sondern auch die Allgemeinheit, die bei vorzeitiger dauernder Erwerbsunfähigkeit den Arbeitnehmer und dessen Familie sozialversicherungsrechtlich abdecken muss." Laut Irene Holzbauer, die in der Wiener Arbeiterkammer die Abteilung Arbeitsrecht leitet, gibt es gleich mehrere solcher Entscheide. Die Rechtslage sei in Österreich also eindeutig.

Gesunde Arbeitnehmer dürften übrigens auch nicht in Form von Gutscheinen oder sonstigen Geschenken belohnt werden, sagt Holzbauer. In Österreich gelte nämlich das Ausfallsprinzip, wonach Arbeitnehmer auch während des Krankenstands jenes Entgelt erhalten, das sie verdient hätten, wenn kein Krankenstand eingetreten wäre. Beschwerden aufgrund einer Anwesenheitsprämie gebe es nur "sehr selten", sagt Holzbauer. "Ich mache das jetzt seit 25 Jahren. Ich glaube, mir ist einmal ein Unternehmen untergekommen, das solche Anreize setzen wollte."

Versteckte Belohnungen

Dass es das gar nicht gibt, könne man trotzdem nicht sagen, sagt Risak. Als Beispiel nennt er eine Regelung in einem Unternehmen der Druckbranche, wonach eine Gruppe Beschäftigter durch Krankheit Entgelteinbußen hinnehmen musste – der OGH sah hier de facto eine Anwesenheitsprämie und gab den Klägern recht. (Den ausführlichen Enscheid gibt es hier.) Und hinzu kommt natürlich auch dieser Punkt: Nur weil es keine offensichtliche Prämie gibt, heißt das nicht, dass Arbeitnehmer, die nur selten krank sind, nicht auf andere Weise bevorzugt werden – etwa bei Beförderungen. Risak: "Hier wird das Brutale der Digitalisierung sichtbar. Denn mit nur einem Knopfdruck habe ich sofort eine Liste, wo ich ganz genau sehe, wer wie oft krank war. Natürlich kann man Abteilungen dann so benchmarken." (lhag, 5.4.2017)