Proteste sind in Mazedonien mittlerweile auf der Tagesordnung.

Foto: AFP / Robert ATANASOVSKI

Eine Festplatte, 546.948 Dateien darauf und sechs Boxen mit Transkripten von Abhörprotokollen. Dieses Material, das den oppositionellen Sozialdemokraten vor zwei Jahren zugespielt worden war, führte nicht nur zum größten Abhörskandal einer europäischen Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch zur Schaffung einer eigenen Staatsanwaltschaft. Es geht um systematischen Amtsmissbrauch von Politikern und hohen Beamten, Wahlbetrug und organisierte Korruption auf staatlicher Ebene. Seit September 2015 Jahr hören sich Tag für Tag Juristen die tausenden Audioprotokolle an und untersuchen, ob sie strafrechtliche Relevanz haben. Die mazedonische Sonderstaatsanwaltschaft (SJO) hat bisher jedoch erst 45 Prozent der Dateien durchforsten können.

In dem quadratischen Gebäude an der Ecke zum Boulevard Partizanski Odredi in Skopje rennen Leute die Stiegen auf und ab. Alle hier sind sehr schnell in dem, was sie tun. Lence Ristoska, eine der drei leitenden Staatsanwältinnen, kann Fragen so rasch und klar beantworten, dass man sofort versteht, dass sie messerscharf Schlüsse ziehen kann. Draußen vor der Türe demonstrieren Angestellte eines Unternehmers, gegen den ein Haftbefehl vorliegt. Sie kommen jeden Tag, um für ihren Chef mobil zu machen. Der Mann selbst ist flüchtig. Die Sonderstaatsanwaltschaft (SJO) ist für viele so etwas wie der materialisierte Albtraum in dem Balkanstaat, der seit zehn Jahren unter der Regierung des nationalkonservativen Nikola Gruevski immer mehr ins Autoritäre abglitt. Leute, die sich niemals vorstellen konnten, für ihre Taten Rechenschaft ablegen zu müssen, werden plötzlich mit Strafverfolgern konfrontiert, die das Gesetz ernst nehmen. Das ist etwas geradezu Revolutionäres auf dem Balkan.

"Lasst es uns machen"

Auf einer der Audiodateien, die als Grundlage für insgesamt 16 Ermittlungsstränge dient, ist der ehemalige Premier Gruevski zu hören, wie er den damaligen Transportminister Mile Janakievski auffordert zu eruieren, ob in einem bestimmten Wohnblock in Skopje Anhänger der sozialdemokratischen Opposition (SDSM) leben oder nicht. Gruevski wollte dort nämlich eines der in Skopje unzähligen kitschigen neobarocken Gebäude hinstellen und das alte Gebäude abreißen lassen. "Überprüfe das mal und sag mir das kommende Woche. Wenn die für die SDSM gestimmt haben, dann scheiß auf sie. Wir werden ihre Stimmen ohnehin verlieren, also wenn sie nicht für uns stimmen, lasst es uns machen!", so Gruevski zu Janakievski.

Diese und tausende anderer solcher Gespräche wurden ab 2011 – möglicherweise von einer Art Geheimdienst im mazedonischen Geheimdienst – aufgenommen. Insgesamt sollen 20.000 Bürger auf illegale Weise abgehört worden sein. Die Abhörgeräte wurden aus Israel gekauft. Als der Skandal 2015 publik wurde, wurden die Geräte vernichtet. Auch dieser Fall wird untersucht. In der SJO heißt er "Festung". Ristoka zum STANDARD: "Man kann eine Verbindung zwischen dem Material, das wir haben, und der Art, wie es aufgenommen wurde, herstellen. Es ist möglich, diesen Beweis zu erbringen." Bisher hat die Regierungspartei VMRO-DPMNE behauptet, ausländische Geheimdienste hätten die Dateien auf der Festplatte gefälscht.

Bisher nur ein Haftbefehl

Zahlreiche Vertreter der Partei, der Regierung und untergeordnete Beamte müssen schließlich mit Strafprozessen rechnen. Bisher versucht das alte "System" deshalb eine juristische Aufarbeitung zu verhindern. Wenn die Sonderstaatsanwaltschaft, die nur auf Druck der EU und der USA zustande kam, beispielsweise die Gerichte auffordert, Haftbefehle zu erlassen, werden diese einfach abgewiesen. "Von 23 Anträgen wurden nur fünf zugelassen, davon vier danach wieder überstimmt, und bisher gab es nur einen Haftbefehl", erzählt Ristoka von der systematischen Behinderung der Arbeit der SJO. Bestimmte staatliche Institutionen würden einfach die Zusammenarbeit verweigern. Mit dem derzeitigen Innenminister gäbe es aber eine gute Kooperation.

Der Druck auf die 117 Mitarbeiter der SJO ist riesig. Der SJO selbst wurden eigene Sicherheitskräfte zur Verfügung gestellt. Mazedonien steht vor einer Zerreißprobe. Noch ist nicht klar, ob das alte Regime bleibt oder gehen wird. Die VMRO versucht den Machtkampf mit antialbanischer Stimmungsmache aufzuladen. Ein großes Problem für die Staatsanwälte ist, dass viele Zeugen einfach nicht erscheinen. In einer Voruntersuchung wurden etwa 184 Personen vorgeladen. SJO-Vertreter fuhren extra in die Stadt Ohrid, um die es in diesem Fall ging. Doch die Regierungspartei VMRO organisierte Demonstrationen gegen die Einvernahme der Zeugen und forderte die Leute auf, nicht auszusagen. So kamen am Ende nur 13 Personen zur Befragung. Auch Gruevski selbst sollte Medienberichten zufolge seit vergangener Woche bei der SJO erscheinen. Einige Vertreter des früheren Regimes kamen allerdings bereits: Darunter die ehemalige Polizeiministerin Gordana Jankulovska und der Exgeheimdienstchef Sašo Mijalkov – ein Cousin von Gruevski.

"In einer Stunde zerschmettern"

Von Jankulovska existieren zahlreiche Abhörprotokolle. Auf einem ist zu hören, wie sie gefragt wird, ob sie bereit wäre, einen Krieg gegen die Albaner zu beginnen – 25 Prozent der Bevölkerung gehören in Mazedonien dieser Volksgruppe an. Jankulovska sagte darauf: "Wenn es darum geht zu zeigen, wer stärker ist, werden wir die in einer Stunde zerschmettern …" Wer sich mit den Audiodateien längere Zeit beschäftigt, bekommt ein Bild von einem autokratischen System: Mithilfe von willfährigen Medien und jenseits rechtsstaatlicher Normen und demokratischer Regeln hat eine Partei innerhalb eines Jahrzehnts offensichtlich den Staat unterlaufen.

In vielen Fällen geht es um öffentliche Aufträge, die an regimetreue Leute vergeben wurden, die im Gegenzug der politischen Klasse und ihren Verwandten und Freunden sowohl im Privaten als auch im Beruflichen offensichtlich helfen sollten. Wer sich die Politiker anhört, denkt in einem B-Movie mit einem äußerst brutalen und primitiven Gesprächston gelandet zu sein. Es sei kein Problem, die Stimmen auf den Dateien den Politikern und den Beamten zuzuordnen, sagt Ristoka. "Man vergleicht die Stimmen einfach mit anderen Audio- und Videodateien. Das ist mit forensischen Mitteln sehr leicht zu machen."

Der Fall Titanic

Wie sehr das Regime sich vor der Aufarbeitung der Vergehen fürchtet, ist Tag für Tag in der Politik zu merken. Die Opposition verfügt gemeinsam mit drei Albaner-Parteien über die Mehrheit im Parlament – doch Präsident Gjorge Ivanov verweigert sich seit mehr als einem Monat, den Sozialdemokraten das Mandat zur Regierungsbildung zu geben – jenseits aller demokratischer Spielregeln. Die VMRO versucht die Regierungsbildung zudem durch Dauerreden im Parlament zu verhindern.

Bisher sind die Ermittlungen der SJO hinsichtlich des Wahlbetrugs – genannt Titanic – am meisten fortgeschritten. "Wir werden in diesem Fall Anklagen erheben können", kündigt Ristoka dem STANDARD an. Im Fall Titanic geht es um die Verletzung des Wahlgesetzes, die Einschränkung der Wahlfreiheit, Bestechung, Vernichtung von Wahlmaterialien und den Missbrauch von Mitteln für die Kampagne. Auch in weiteren zwei oder drei Fällen sei eine Anklage möglich, so Ristoka.

Anklagefrist

Zurzeit ist der größte Feind der Staatsanwältinnen die Zeit. Denn in der rechtlichen Grundlage für die SJO wurde ein Passus eingebracht, wonach nur 18 Monate lang, also bis Juni 2017, Anklagen erhoben werden können. Die SJO fordert seit langem bereits, dass die Frist durch das Parlament verlängert wird. "Wir sehen keinerlei Hindernisse, auch nach dieser Frist weiterzuermitteln", zeigt sich Ristoka kampfbereit. "Das Gesetz ist nicht klar, das kann verschieden interpretiert werden. Aber keine unserer umfassenden Ermittlungen kann in 18 Monaten abgeschlossen werden."

Die Arbeit würde eher mehr als weniger, erklärt sie. "Wir erwarten uns ja nicht, dass uns alle toll finden, aber wir wollen, dass wir von den Institutionen wie andere Staatsanwaltschaften behandelt werden." Wenn die Obstruktionen offensichtlich werden, dann zeigen die Staatsanwältinnen schon auch mal richtig Zähne. So hat die SJO kürzlich gegen einen Richter Strafanzeige erstattet. Nicht nur die Abhörprotokolle selbst, auch die Art und Weise, wie nun mit der SJO umgegangen wird, zeigt, dass ein Teil der Justiz in Mazedonien parteiisch ist.

Neues Dechiffriersystem

Im Herbst wurde der SJO ein neues Dechiffriersystem zur Verfügung gestellt. So konnten jetzt weitere 67.000 neue Dateien auf der Festplatte geöffnet werden, die bisher als unlesbar galten. Ristoka meint, die Sonderstaatsanwaltschaft könne sich langfristig überhaupt mit Korruption auf höchster Ebene beschäftigen – auch jenseits der Abhörprotokolle. Allerdings müsse dazu das Gesetz geändert werden. In Rumänien – dem Vorzeigeland in Südosteuropa, wenn es um Justizreformen geht – hat eine solche Staatsanwaltschaft in den vergangenen Jahren korrupten Politikern und Beamten das Fürchten gelehrt. Das Beispiel der SJO in Mazedonien zeigt, dass die Unterstützung von Rechtsstaatlichkeit die bisher effektivste Strategie der USA und der EU auf dem Balkan ist.

"Wir haben Stärke und Entschlossenheit gezeigt, Amtsmissbrauch und Korruption zu bekämpfen", sagt Ristoka in ihrer schnellen und lebhaften Art. Wenn man mit ihr redet, hat man den Eindruck, dass sie einen sehr langen Atem hat. (Adelheid Wölfl aus Skopje, 11.4.2017)