Sanne mitsamt Arbeitsgerät und Messenger-Outfit.

Foto: privat

Myriam ist seit sieben Jahren als Messenger in Amsterdam unterwegs. Sie hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht.

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Fahrradkuriere gelten als Outlaws im Straßenverkehr. Dabei war ihr Urahn ein braver und gesetzestreuer Bürger. Der bayrische Schlosser Johann Baptist Ruhdorfer fuhr schon 1896 täglich mit seinem Hochrad von Hohenlinden nach Rosenheim und München, um dort Ersatzteile für seine Kunden zu besorgen. Mit der zunehmenden Motorisierung verschwand das Fahrrad als Transportmittel jedoch aus dem Straßenbild. Bis in den 1970er-Jahren die Ballungsgebiete in Nordamerika und in der Folge auch in Europa zunehmend unter der Verkehrsbelastung litten. Plötzlich wurde das Fahrrad als schnellstes urbanes Vehikel wiederentdeckt. Bei Entfernungen, die weniger als fünf Kilometer ausmachen, ist man als Biker im Stadtverkehr von Tür zu Tür durchschnittlich um 30 Prozent schneller als ein Kfz-Nutzer.

Heute dienen klassische Messenger oder Fahrradkuriere als modische Vorbilder für vollbärtige Hipster. Fixies und Messengerbags wurden vom Arbeitsgerät zum Modetrend. Die Arbeitswelt der Kuriere ist durch die Digitalisierung unter Druck geraten. Wir haben zwei Veteranen der Szene in Europas Bikehauptstadt Amsterdam zum Interview gebeten. Myriam und Sanne, die nur ihre Vornamen in den Medien lesen wollen, sind beide 35 Jahre alt und seit Jahren auf den Straßen Amsterdams als Messengers unterwegs.

STANDARD: Wie lange seid ihr schon als Messengers im Geschäft?

Sanne: Ich habe vor gut 15 Jahren begonnen. Ich habe in dieser Zeit für verschiedene Firmen gearbeitet und zwischendurch immer wieder mal pausiert.

Myriam: Ich hab die vergangenen sieben Jahre als Messenger gearbeitet. Ich kam über das Amsterdam Velodrom, wo ich Bahnrad gefahren bin, in die Szene. Dort habe ich ein paar Messengers kennengelernt und bin draufgekommen, dass ich fürs Radfahren auch bezahlt werden könnte, anstatt im Velodrom dafür zu zahlen.

STANDARD: Was macht für euch den Reiz an diesem Job aus?

Myriam: Das ist der beste Beruf, den man sich wünschen kann. Du wirst dafür bezahlt, draußen zu spielen, und die ganze Stadt ist dein Spielplatz. Du arbeitest gegen dich selbst, gegen die Zeit und gegen das Wetter.

Sanne: Ja, das Wetter ist in Amsterdam eine besondere Herausforderung. Es ist hier vor allem im Winter sehr nass und kalt. Viele unterschätzen diesen Job, sie fangen an und sind dann überrascht, wie viel Arbeit es ist, den ganzen Tag auf dem Bike zu sitzen. Des Geldes wegen macht man diese Arbeit jedenfalls sicher nicht, man muss wirklich gern Radfahren.

STANDARD: Und wie sieht es mit der Bezahlung aus?

Myriam: Die ist beschissen, etwas über acht Euro die Stunde. Und in sieben Jahren habe ich nur drei Mal Trinkgeld bekommen. Weil es keine Barzahlung gibt. Um reich zu werden, macht das niemand.

Sanne: Es ist der Mindestlohn, also nicht viel für diese harte Arbeit. An einem geschäftigen Acht-Stunden-Tag kommt man schon auf 120 Kilometer und kriegt am Ende um die 60 Euro dafür. Heute gibt es nur mehr sogenannte "Hour Contracts" für Messenger in Amsterdam. Das heißt, man bekommt keine fixe Anstellung, sondern wird gerufen, wenn es Arbeit gibt.

STANDARD: Welche Räder fahrt ihr im Job?

Sanne: Als ich begonnen habe, bin ich Fixie gefahren. Mein letztes war ein Bahnrad mit einer eigentlich zu heftigen Übersetzung 52 zu 16. Natürlich ohne Bremsen. Das macht schon Sinn, denn alle zusätzliche Ausstattung ist reparaturanfällig. Vor allem wenn man im Winter auf den gesalzenen Straßen fährt, ruiniert einem das die Komponenten. Aber das war bisweilen ganz schön schwer und es setzt den Knien ziemlich zu, wenn man die ganze Zeit nur Fixie fährt. Darum bin ich irgendwann aufs normale Roadbike umgestiegen, das ist angenehmer zu fahren. Ich benutze heute ein Mountainbike-Clickpedalsystem, denn da kann man Schuhe mit normalen Sohlen anziehen. Wir müssen ja auch viel laufen, wenn wir liefern.

Myriam: Ich fahre auch ein Stahlrahmen-Bahnrad mit 47-zu-17-Übersetzung und einer Vorderbremse. Auf den Pedalen habe ich Straps. Ich hätte schon eine einfachere Übersetzung nehmen können, aber das ist weniger schnell und macht weniger kräftige Schenkel.

STANDARD: Wie viele aktive Messenger gibt es derzeit in Amsterdam?

Sanne: Ich schätze, täglich sind so zwischen 15 und 20 Leute unterwegs. Früher waren es deutlich mehr. Aber die Digitalisierung hat uns viele Aufträge gekostet. Heute kann man vieles einfach per E-Mail schicken.

Myriam: Ja, ich würde auch so um die 20 schätzen. Da sind aber die Lieferdienste für Essen nicht mitgezählt. Das sind keine echten Messenger.

Sanne: Nein, die haben mit uns nichts zu tun, das ist ein komplett anderer Job. Die fahren zu einem Restaurant, holen Essen und liefern es, oft auch auf E-Bikes oder Motorrollern. Als Messenger musst du Touren planen und kombinieren. Bei uns in der Firma arbeitet immer ein Planer mit zwei Bikern zusammen, um die Touren so zu gestalten, dass man möglichst effizient fährt und keine leeren Kilometer macht.

STANDARD: Wie ist es um die Szene bestellt?

Myriam: Ich liebe die Messengerszene und bin auch aktiv darin, es ist wie eine große Familie. Vor allem wenn man reist, ist das herrlich, weil man in jeder größeren Stadt einfach einen Platz zum Schlafen findet. Und die Meisterschaften sind jährliche Highlights. Ich war zum Beispiel letztes Jahr bei den Cycle Messenger World Championships (CMWC) in Paris dabei. Speziell unter den weiblichen Kurieren ist der Zusammenhalt sehr groß.

Sanne: Ich bin heute nicht mehr so wirklich in der Szene drinnen. Vor zehn Jahren war das alles noch lebendiger. Da wurden auch viele Aktivitäten rund um die Arbeit organisiert wie etwa die Alleycat-Races. Das sind illegale oder eben unangemeldete Straßenrennen durch die Stadt. Am 4. Mai gibt es in Amsterdam noch ein jährliches Alleycat-Race. Das ist in den Niederlanden der Tag, an dem wir den Toten des Zweiten Weltkrieges gedenken. Und dieses Rennen ist speziell den Messengers gewidmet, die während der Nazi-Besetzung für den Widerstand illegale Zeitungen und Informationen transportiert haben. Natürlich gibt es auch ein paar Szene-Codes, die man übernimmt, wie eben die Fixies oder die Messenger-Bag. Und ich würde zum Beispiel niemals in Lycra-Outfit fahren. Sowas ist zwar ganz angenehm und praktisch, aber einfach total uncool für einen Messenger. Man zieht das dann eben einfach unter den Shorts an.

Kurzdokumentation über Alleycat-Racing in Dublin.
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STANDARD: Fahrradkuriere gelten als Outlaws im Straßenverkehr. Wie ist der Alltag auf Amsterdams Straßen?

Myriam: In Amsterdam sind es in erster Linie die anderen Radfahrer, die ein Verkehrsproblem darstellen. Vor allem die vielen Touristen, die völlig unberechenbar fahren, weil sie das Tempo nicht gewohnt sind. Die zweite große Gefahr sind die Straßenbahnschienen. Vor allem bei Regen sind die richtig fies.

Sanne: Ja, die nervigsten Verkehrsteilnehmer sind die anderen Biker. Sie sind viel schwerer einzuschätzen als etwa Autos. Darum fahre ich meistens auf der Straße, obwohl wir so viele Radwege haben. Aber dort kann ich mit dem Flow der Autos mitfahren, die sind eher mit meinem Speed unterwegs.

STANDARD: Und wie ist das Verhältnis zur Polizei?

Sanne: Heute bin ich vorsichtig, aber früher war ich da etwas wilder unterwegs. Ich habe mir schon manchmal Verfolgungsjagden mit ihnen geliefert. Einmal in der Fußgängerzone, wo Biken eigentlich verboten ist. Ich musste eine Lieferung zustellen, als mich zwei Polizisten auf Pferden stoppten. Da bin ich durch die Menschenmenge abgehauen und sie haben mich im Galopp verfolgt. Das war ganz schön gefährlich, ich konnte sie in an einer Unterführung abhängen, wo sie mit ihren Pferden nicht durchkamen. Ein anderes Mal hatte ich kein Licht, und eine Fahrradstreife wollte mich stoppen. Das sind die mit den klobigen Mountainbikes. Er rief noch, er werde mich schnappen. Ich hab nur gelacht, geantwortet 'no fucking way' und bin los gesprintet. Nach zwei, drei Kreuzungen war er nicht mehr zu sehen. Als sie mich mal mit dem Auto verfolgten, haben sie mich abgedrängt und ich bin gestürzt. Dabei habe ich mir das Schlüsselbein gebrochen. Die Polizei hat dann die Rettung gerufen und auf eine Strafe verzichtet. Er meinte, ich habe meine Strafe schon.

STANDARD: Wie ist es um die Zukunft des Jobs bestellt?

Myriam: Es verändert sich seit ein paar Jahren sehr – durch das Aufkommen der Botendienste und die digitalen Möglichkeiten zur Übertragung von Daten. Ich bin derzeit leider sowieso raus, weil ich wegen Rückenproblemen nicht beruflich fahren kann.

Sanne: Wenn ich besser bezahlte Jobs bekomme, mache mittlerweile lieber diese. Die Szene ist kleiner geworden und weniger aktiv. Man hat leider den Eindruck, sie stirbt langsam. (Steffen Arora, 11.4.2017)