19. April 1967: Switzer ist im 71. Boston-Marathon keine vier Kilometer gelaufen, da wird sie von Renndirektor Semple attackiert. "Her mit der Startnummer", schreit Semple. "Sie ist okay", schreit Coach Briggs (rechts hinten). "Lass sie in Ruhe", schreit Miller (re.). Miller rempelt Semple von der Straße, dieser steigt wieder ins Auto und droht: "Das werdet ihr bereuen."

Foto: Boston Herald

Auf den 17. April 2017 hat sich Switzer (70), hier kürzlich beim Trainieren in Neuseeland fotografiert, gut vorbereitet.

Foto: Hagen Hopkins

Das K steht für Kathrine, das V steht für Virginia. K. V. Switzer, unter diesem Namen, und nicht ohne Hintergedanken, meldet sich eine 20-jährige Publizistik-Studentin aus Syracuse, New York, zum 71. Boston-Marathon an. Seit 1897 wird in Boston bereits Marathon gelaufen, so lange wie nirgendwo sonst.

"Ich hab' meinen Namen oft abgekürzt, ich wollte ja Schriftstellerin werden. K. V. Switzer, das hatte einen guten Klang. Das klang fast wie T. S. Eliot."

Wir schreiben 1967, das Jahr, in dem in Indonesien General Suharto die Macht übernimmt, in Griechenland das Militär putscht, in Berlin der Student Benno Ohnesorg erschossen wird. Es ist das Jahr des Sechstagekrieges, das Jahr, in dem Muhammad Ali den Kriegsdienst verweigert und das 2000. US-amerikanische Flugzeug über Vietnam abgeschossen wird. Elvis Presley heiratet Priscilla Beaulieu, und die Beatles bringen "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" heraus. Die Hippies feiern den "Summer of Love". Auf der Wiener Skipiste Hohe-Wand-Wiese findet der weltweit erste Parallelslalom statt.

"Es war saukalt, deshalb hatte ich eine Trainingshose und eine Jacke an. Ansonsten hätten sie mich wohl schon am Start entdeckt."

Und K. V. Switzer steht in Boston am Start. 19. April, es ist kalt und windig. Die junge Frau will nicht von ungefähr unter K. V. laufen. Sie weiß, dass die Teilnahme Männern vorbehalten ist und sich vor ihr noch nie eine Läuferin angemeldet hat. K. V. hat bei der Organisation keinen Argwohn erweckt. Switzer, die seit ihrem zwölften Lebensjahr läuft und an ihrer Uni mit den Leichtathleten trainiert hat, bekam die Startnummer 261 und macht sich gemeinsam mit Arnie Briggs, dem Coach des Crosslaufteams von Syracuse, ihrem Freund Tom Miller, der Hammerwerfer ist, und anderen Begleitern auf den Weg. Sie kommen keine vier Kilometer weit. Dann kommt Jock Semple.

"Ich habe noch nie so ein hasserfülltes Gesicht gesehen."

Der Teufel weiß, was Semple, den Renndirektor des Boston-Marathons, geritten hat. Er steigt aus seinem Auto aus und sozusagen in den Marathon ein, er rennt Switzer in Zivil hinterher, er will ihr die Startnummer herunterreißen. Kathrine dreht sich um, erschrickt. "Raus aus meinem Rennen, her mit der Nummer", schreit Semple. "Sie ist okay, sie hat sich gut vorbereitet", schreit Briggs, der schon 15 Mal in Boston gelaufen ist und jetzt vergeblich dazwischenzugehen versucht. "Lass sie gefälligst in Ruhe", schreit Miller und rempelt Semple in Footballer-Manier von der Straße. Semple steigt wieder in sein Auto, fährt eine Zeitlang neben der Gruppe her, schimpft, droht. "Das werdet ihr bereuen."

"Ich musste dieses Rennen um jeden Preis beenden. Sonst hätte es geheißen, Frauen haben es nicht drauf, Marathon zu laufen."

Als sich Semple endlich aus dem Staub macht, kehrt Ruhe ein, und Kathrine Virginia Switzer läuft dem Ziel entgegen. Der Weg ist lang, nach 4:20 Stunden kommt sie an, zwanzig Minuten nach Zielschluss, offiziell wird keine Zeit mehr genommen. Switzer ist zufrieden, sie wusste, sie hat die Distanz drauf. Doch sie weiß nicht, wie sehr der Ausflug nach Boston ihr Leben verändern würde. Eine Ahnung bekommt sie während der Heimfahrt, als sie am nächsten Tag in der Früh an einer Tankstelle hält. Am Nebentisch liest ein Mann eine Zeitung, auf der Titelseite prangt groß ein Marathonbild, kein Siegerbild, sondern das Switzer-Semple-Bild. Es war Semples Pech und, wenn man so will, Switzers Glück gewesen, dass während ihrer Begegnung das Fahrzeug mit den Fotografen unmittelbar vor ihnen fuhr.

"Ich bin als junges Mädchen gestartet und hab den Marathon als erwachsene Frau beendet."

Die Bilder von dem Vorfall gingen um die Welt. Und oft, wenn es um weibliche Errungenschaften im Sport geht, sind sie wieder zu sehen, notabene bei Jubiläen. Bilder von einem 63-jährigen Mann, der eine 20-jährige Frau attackiert. Die Frau und der Mann sind einander später noch öfter über den Weg gelaufen und, sagt Switzer, "eigentlich beinah Freunde" geworden. Entschuldigt hat er sich nie, nur gebrummt: "Ich hatte doch nie etwas gegen Frauen." Sie stand nicht an, ihm zugutezuhalten, er sei überarbeitet und müde gewesen, und er habe den Boston-Marathon für "sein" Rennen gehalten. Semple war schon außer sich, wenn Männer verkleidet an den Start gingen. Er dachte, sie wollten ihn zum Narren machen. Und das dachte er 1967 auch von K. V. Switzer.

"Dieser Marathon hat mein Leben verändert und in der Folge das Leben von sehr vielen anderen Frauen. Das war der Beginn einer Revolution."

Switzer war die erste Frau, die genannt hatte und eine Startnummer bekam. Doch sie war nicht die erste Frau, die in Boston lief. Die Siegerinnenliste beginnt sogar schon mit dem Jahr 1966, da wie auch 1967 und 1968 erzielte Roberta Louise "Bobbi" Gibb aus Massachusetts die beste Zeit. 1967 war sie nach 3:27 Stunden, also fast eine Stunde vor Switzer, im Ziel gewesen. Aber eben unangemeldet, inoffiziell und auch, wie es offiziell heißt, "unsanctioned". Es sollte bis 1972 dauern, dass Frauen in Boston den ersten von der Amateur Athletic Union (AAU) sanktionierten Marathon bestreiten durften.

"Männer haben mehr Kraft, Speed und Härte, das ist klar. Aber Frauen haben Ausdauer."

Semple ist längst nicht mehr am Leben. Switzer sagt, sie denke jeden Tag an ihn. Das Laufen, der Marathon, der Einsatz für Frauenrechte sind ihr Lebensthema geworden. 1972 fand in New York der erste Frauenlauf über zehn Kilometer statt. 1981 konnte das Internationale Olympische Komitee (IOC) dann nicht mehr anders, als den Frauenmarathon ins Programm der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles aufzunehmen. Zuvor hatte Switzer jahrelang beim Leichtathletik-Weltverband (IAAF) und beim IOC lobbyiert, sie hatte mitgeholfen, 400 Frauenläufe zu organisieren, bei denen in 27 Ländern mehr als eine Million Frauen an den Start gegangen waren.

"Das IOC war lange ein Gegner des Frauensports. Pierre de Coubertin wollte Frauen nur zusehen, aber nicht teilnehmen lassen."

Switzer ist eine Ikone des Frauenlaufsports. Im Marathon war sie nur anfänglich eine der Besten, 1974 gewann sie – als bis heute letzte New Yorkerin – den New-York-City-Marathon. 1975 fixierte sie als Zweite in Boston ihre persönliche Bestzeit (2:51:33), zu diesem Zeitpunkt waren nur fünf Frauen weltweit schneller als sie. Sie hat als Journalistin für TV- und Radiostationen, Zeitungen und Magazine gearbeitet, drei Bücher verfasst, u. a. die Autobiografie "Marathon Woman" (2011), die auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Sie hält Vorträge, ist ständig auf Achse. Mit ihrem Mann, dem neuseeländischen Literaturprofessor und ehemaligen Masters-Rekordläufer Roger Robinson, der den Marathon als 41-Jähriger in 2:18:45 Stunden zurücklegte, lebt sie "nur noch im Sommer", das halbe Jahr in Wellington, das andere halbe Jahr in New Paltz, zwei Autostunden nördlich von New York City.

"Alle fünf Jahre läuft eine Generation von Frauen zum ersten Mal. Die werden durch Frauenläufe motiviert. Fünf Kilometer sind mit ordentlicher Vorbereitung machbar."

Den Österreichischen Frauenlauf in Wien, der heuer im Juni zum 30. Mal stattfindet und mittlerweile mehr als 30.000 Teilnehmerinnen versammelt, hat Switzer mehrmals beehrt. 2005 bekam sie den "Frauenlauf Award" verliehen, und 2012 schmückte sie die 25. Auflage. Sie hat sich mit der Frauenlauf-Organisatorin Ilse Dippmann und mit Edith Zuschmann angefreundet. Zuschmann war 2005 als VIP-Betreuerin für den Frauenlauf tätig und begleitete Switzer durch Wien. Die Marathonpionierin aus New York und die Journalistin und laufbegeisterte Bloggerin (Running Zuschi) aus Klagenfurt hatten auf Anhieb einen derart guten Draht zueinander, dass es beim einmaligen Kontakt nicht bleiben konnte.

"Egal, wie alt oder wie dick eine Frau ist, im Feld wird immer eine älter oder dicker sein. Der erste Schritt ist wichtig."

Der Draht zwischen Switzer und Zuschmann führte Ende 2015 zur Gründung der Non-Profit-Organisation 261 Fearless. Den beiden Frauen schwebt ein globales Netzwerk von Läuferinnen vor. In Klagenfurt wurde der erste 261-Klub gegründet, es gibt die Vision von weltweit 261 Vereinen. Bis dahin ist es noch ein ordentlicher Weg, doch in Nord- und Südamerika, in Europa und Asien wurden bereits 261-Klubs ins Leben gerufen. Heuer ist es genau fünfzig Jahre her, dass Switzer den Boston-Marathon lief. Sie geht – am Ostermontag – wieder in Boston an den Start, mit 70 Jahren, es wird ihr insgesamt bereits 40. Marathon sein, der 39. liegt allerdings sechs Jahre zurück. Switzer hat sich zwei Jahre lang sehr gezielt vorbereitet. Sie will den Lauf "genießen können". Kundige trauen ihr durchaus zu, dass sie dieselbe Zeit wie 1967 ins Ziel bringt. Doch die Zeit ist Nebensache. Das K. steht für Kathrine, das V. steht längst auch für Victory.

"Mich besorgt, dass viele junge Frauen unsere Fortschritte im Kampf um Gleichberechtigung als selbstverständlich erachten und nicht verstehen, dass wir weiterkämpfen müssen, um nicht wieder an Boden zu verlieren."

(Fritz Neumann, 16.4.2017)