Wien – Kann man Stimmen sehen? In Seeing Voices, wie der Titel von Dariusz Kowalskis Dokumentarfilm behauptet, ist das unbedingt der Fall. Denn die Stimme beschränkt sich, das macht dieser Film bereits in seinen ersten Minuten klar, keineswegs auf das hörbare Sprechen und findet ihren Ausdruck nicht nur in einer Lautsprache.

Das Erlenen der Gebärdensprache als Muttersprache: "Seeing Voices" verweist auf die Notwendigkeit des ersten Schrittes.
Foto: Freibeuterfilm

Sie ist vielmehr Teil der Individualität eines jedes Menschen, und manch einer, der sprechen könnte, verlässt sich lieber auf die Gestik der Hände. So etwa der junge Ausbildner in einem Berufsvorbereitungskurs, der Jugendlichen erklärt, warum es wichtig sei, die österreichische Gebärdensprache nicht nur zu erlernen, sondern auch gegenüber Hörenden zu verwenden.

Kowalski, der gehörlose Menschen in ihrem Alltag begleitet und für seinen Film selbst die Gebärdensprache gelernt hat, ist mit Seeing Voices eine völlig unangestrengte – und unanstrengende – Studie gelungen. Langsam entwickeln sich für seine Protagonisten die Geschehnisse: In einem Krankenhaus muss ein gehörloses Elternpaar über die Verwendung eines Cochlea-Implantats für ihr Baby entscheiden; die heute selbstbewusste junge Frau türkischer Abstammung, die aufgrund ihrer Taubheit als Kind noch Repressionen und gar Schlägen ausgesetzt war, beginnt ihre erste Arbeit in einer Schneiderwerkstatt; und die Politikerin Helene Jarmer, die sich auf gesetzlicher Ebene für Chancengleichheit einsetzt und seit ihrem zweiten Lebensjahr gehörlos ist, erinnert sich an den Klang einer Kirchenorgel.

Nicht belehrend, dafür stets einfallsreich nähert sich Kowalski seinen charismatischen Protagonisten, verknüpft Seeing Voices die einzelnen Erfahrungen, Ereignisse und Erlebnisse zu einem vielstimmigen und zugleich ganzheitlichen Porträt. Das wiederum ist vor allem das Verdienst einer klugen Montage, die es versteht, die verschiedenen Bereiche und damit einhergehenden Herausforderungen – Medizin, Politik, Freizeit – miteinander zu verknüpfen und abzugleichen. Wie lernt man zu Swingmusik tanzen, wenn man die Musik nicht hören kann, sondern sich dabei auf einen völlig anderen Rhythmus verlassen muss? Welche Funktion kommt den Dolmetschern für die Kommunikation mit den Hörenden – Ärzten, Arbeitgebern, Journalisten – im Alltag zu?

Filmladen Filmverleih

Seeing Voices ist kein Film, der mit dem Zeigefinger auf eine gesellschaftspolitische Herausforderung hinweist, sondern diese unmittelbar beschreibt. Und mit einer verblüffenden Erkenntnis überrascht: Die Untertitel, die man anfänglich lesen zu müssen glaubt, verlieren mit der Dauer zunehmend an Bedeutung. Irgendwann kann man, auch der Gebärdensprache nicht mächtig, jede Stimme hören. (Michael Pekler, 18.4.2017)