Zwangsverheiratet in der noch archaischen Provence der 1940er-Jahre: In "Die Frau im Mond" besitzt Gabrielle (Marion Cotillard) jedoch die Gabe, ihr Leben im Konjunktiv zu denken.

Foto: Studiocanal

Wien – Wie sehnsüchtig ein Blick sein kann, wird im Kino vor allem dann deutlich, wenn er durch den Spalt halbgeöffneter Türen fällt. Die Kamera fokussiert die Wahrnehmung und entrückt das Objekt der Schaulust zugleich. Es erhält einen Rahmen, der es isoliert und damit eine Grenze markiert, die überwunden werden will.

Immer wieder späht die Kamera in Die Frau im Mond durch einen solchen Spalt, dringt vor in eine Sphäre des Anderen, Rätselhaften. Es sind gestohlene Blicke, die sich mit der Unnahbarkeit nicht zufriedengeben. Einmal, am Scheitelpunkt der Geschichte, erwartet die Kamera gebannt, wer die Tür zu einer Wohnung öffnet, an die zuvor ungezählte, vergebliche Liebesbriefe geschickt wurden. Die Antwort entscheidet über das Schicksal von Gabrielle (Marion Cotillard), die ein unstillbares Verlangen hierherführte. Als sich die Tür öffnet, gibt der Film ihrem Leben eine Wendung, die nicht vorherzusehen war, aber heilsam sein wird.

STUDIOCANAL Germany

Die Frau im Mond gehört zu jener Art von Melodram, die man unwiderruflich ans Fernsehen verloren glaubte. Nicole Garcias Film führt zurück in eine Zeit, als man noch aus enttäuschter Liebe in Ohnmacht fiel und seinen Namen in die Bücher schrieb, die man besaß. Seine Konflikte scheinen dem Kostümverleih einer verblichenen Epoche entliehen. Kein Wunder, dass dies in Cannes im letzten Jahr ein entschieden ungeliebter Film war. Auf den zweiten, vom Wettbewerbsdruck entlasteten Blick offenbart er indes eine sacht moderne Perspektive.

Aufgeklärte Ergriffenheit

Garcia und ihr Koautor Jacques Fieschi sind mit Filmen wie Der Lieblingssohn und Place Vendôme zu Protagonisten eines bürgerlichen Kinos geworden, das behutsam die Risse nachzeichnet, die durch verwundbare Lebensentwürfe gehen. Den gleichnamigen Roman von Milena Agus nutzen sie nur als Steinbruch, übertragen die Handlung aus dem Sardinien des Zweiten Weltkriegs in die Provence der frühen 1950er-Jahre: eine geglückte Entwurzelung, bei der ganz neue Figuren und Konstellationen zum Vorschein kommen. Nur an der Heldin, die in einer archaischen Welt Anstoß erregt, hält der Film mit unbeirrter Empathie fest.

Cotillard spielt sie mit aufgeklärter Ergriffenheit. Offensiv entdeckt Gabrielle ihre eigene Erotik, schreibt glühend anzügliche Liebesbriefe, die ihre Verehrer in die Flucht schlagen. Sitte und Tradition verlangen, dass sie domestiziert wird. Der vor dem Franco-Regime geflohene Saisonarbeiter José (Alex Brendemühl) erscheint der strengen Mutter als geeignete Partie; er ist ein stolzer, arbeitsamer Mann, der die moralische Enge der Verhältnisse respektiert. Die Braut hätte die Chance, sich dem Handel zu widersetzen. Nun stellt sie Regeln für das Zweckbündnis auf, in dem Liebe keine Rolle spielt. Beide wissen, woran sie sind.

Neuer Lebensmut

Wegen eines Nierenleidens kann Gabrielle nicht schwanger werden. Während der Kur in den Alpen verliebt sie sich in den Offizier André (Louis Garrel), dessen Lebensmut im Indochinakrieg erloschen ist. Mit ihm erlebt sie ihre glücklichste Zeit. Der Sohn, den sie später bekommt, könnte sein Musiktalent geerbt haben. Die Briefe, die sie an André schreibt, bleiben ohne Antwort.

Aber sie besitzt, wie viele Figuren Garcias und Fieschis, die Gabe, ihr Leben im Konjunktiv zu denken. Der Erzählimpuls ihrer Filme zielt, mit Paul Claudel gesprochen, auf die Erlösung der gefangenen Seelen. Allmählich wandelt sich der Blick auf diese Vernunftehe. Die Sehnsucht gewinnt in ihr größeren Spielraum als zunächst erwartet. Der Agent dieser Katharsis ist José, den Brendemühl als unerbittlichen Ruhepol spielt.

Sein verwittertes, verschlossenes Antlitz ist eine Maske der Wehmut. Jedes Wort, jede Geste lassen erahnen, wie reich das Innenleben dieses Mannes ist, der alles dafür gibt, dass seine Frau den Aufruhr ihrer Gefühle überlebt. (Gerhard Midding, 21.4.2017)