Hayir-Pickerl im Land sollten Wähler für ein Nein beim Referendum mobilisieren.

Foto: Thomas Schmidinger

Hopa, ganz im Osten der Schwarzmeerküste, hat gegen das neue türkische Präsidialsystem gestimmt. Auch am Tag nach der Abstimmung sind in der Stadt ausschließlich Plakate der Nein-Kampagne zu finden. Viele wurden zwar heruntergekratzt. Das Ergebnis war allerdings eindeutig: Mehr als 65 Prozent haben hier gegen das Präsidialsystem gestimmt. In der Industrie- und Teeregion, in der noch viele Angehörige der kaukasischen Minderheit der Lazen leben, konnte sich die Regierungspartei AKP nicht durchsetzen.

Wenige Kilometer weiter im Westen zeigt sich ein anderes Bild. In der Provinz Rize haben 75 Prozent für das Präsidialsystem gestimmt. Rize ist eine der AKP-Hochburgen. Hier gibt es eine Recep-Tayyip-Erdoğan-Üniversitesi. Wer hier mit dem Bus fährt, muss aus dem Lautsprecher auch Loblieder auf den türkischen Präsidenten über sich ergehen lassen. Nur eine einzige Gemeinde der Provinz, das am nächsten bei Hopa liegende Fındıklı, hat knapp dagegen gestimmt. Dementsprechend präsent sind die "Danke"-Plakate des Präsidenten in Rize.

Gespaltenes Land

In Hemşin, einem kleinen Ort im Hinterland, fragt der Kellner im Kaffeehaus gleich, ob wir Recep Tayyip Erdoğan kennen würden. Er würde ihn lieben. Die Leute drüben in Hopa seien alles Kommunisten, deshalb hätten sie gegen den Präsidenten gestimmt. Aber hier in Rize seien "alle" Unterstützer des Präsidenten.

Ganz dürfte das nicht stimmen. Im Ortsbild fallen auch Parteibüros der kemalistischen CHP und der Demokratischen Linkspartei auf. 34,8 Prozent hatten hier mit Nein gestimmt, und das in einem Ort, der von zum Islam konvertierten Armenierinnen und Armeniern, den sogenannten Hemşinli, bewohnt wird. Während in den Dörfern der Hemşinli weiter östlich um Hopa weiter ihr eigener armenischer Dialekt gesprochen wird, ging man hier allerdings im 19. Jahrhundert bereits dazu über, Türkisch zu sprechen. "Die Amerikaner und Israelis" würden hier Zwietracht zwischen Türken, Kurden, Lazen und Hemşinli säen wollen, um die Türkei zu schwächen. Für ihn seien das aber alles Türken, und er sei stolz darauf, Türke zu sein.

Liebe zum Reis

Wer in Hemşin, Rize oder einer der anderen Küstenstädte der Provinz mit Wählern spricht, die sich für das neue Präsidialsystem ausgesprochen haben, hört als Antwort auf die Frage, warum sie für das neue System gestimmt hätten, keinerlei Ausführungen über die türkische Verfassung. Vielen Wählerinnen und Wählern ist nicht einmal klar, worüber hier eigentlich abgestimmt wurde. Vielmehr gelang es der AKP, die Abstimmung zu einer Abstimmung über den Reis, den Präsidenten persönlich, werden zu lassen. Wer Erdoğan liebt, hat für Ja gestimmt.

Und in Rize, Konya und Yozgat lieben ihn viele Wählerinnen und Wähler. In diesen konservativ-nationalistischen Provinzen der Türkei haben viele vom ökonomischen Aufschwung unter der AKP-Regierung profitiert. Zudem haben viele dieser Religiös-Konservativen das Gefühl, endlich nach Jahren der Benachteiligung an die ihnen zustehenden Futtertröge gekommen zu sein.

In Yozgat waren es mehr als 74 Prozent, die für ihr Idol gestimmt haben. In Akdağmadeni, jener Kleinstadt, aus der in den 1970er-Jahren die meisten Arbeitsmigranten nach Österreich gekommen sind, gar mehr als 79 Prozent.

Erdoğan-Fans in der Diaspora

Ist es hier sehr verwunderlich, wenn deren Nachkommen in Österreich ein ähnliches Abstimmungsverhalten an den Tag gelegt haben? Damals kamen selbstverständlich nicht die gebildeten städtischen Mittelschichten nach Österreich, um schlecht bezahlte Hilfsarbeitertätigkeiten auszuüben. Warum hätten diese auch kommen sollen? Von österreichischer Seite war man ja an einer Unterschichtung der österreichischen Arbeiterschaft interessiert und brauchte ungelernte Arbeitskräfte.

Dass deren Nachkommen zwei Generationen später immer noch kaum über Aufstiegschancen verfügen und sich ständig rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt fühlen, hat wohl auch dazu beigetragen, sie in die Arme jener zu treiben, die ihnen einreden, endlich wieder auf eine "starke Türkei" stolz sein zu dürfen. Die Reaktionen europäischer Regierungen auf geplante Wahlkampfauftritte von AKP-Politikerinnen und -Politikern wurden hier in der Türkei und in der Diaspora geschickt in die Propaganda der Ja-Kampagne eingebaut.

Neinsager in Kurdistan und den Städten

Erwartungsgemäß gegen das Präsidialsystem wurde in den kurdischen Landesteilen gestimmt, wo seit Dezember 2015 de facto wieder kriegsähnliche Bedingungen herrschen. Aus diesen Regionen kommen aber auch einige der stärksten Indizien für Wahlfälschungen. Viele der wenigen kurdischen Ja-Stimmen waren wohl auch keine.

Was aber noch viel bedeutender sein könnte, ist, dass Erdoğan sämtliche größeren Städte verloren hat. Sowohl Istanbul als auch Ankara und Izmir haben mit Nein gestimmt. Hier gibt es natürlich auch die alten kemalistischen Eliten und liberale und linke Intellektuelle. Trotzdem gewann in Istanbul über Jahre hinweg die AKP Wahlen. Es mussten hier also auch Teile der islamisch-konservativen Basis der AKP mit Nein gestimmt haben. Tatsächlich gab es ja im Vorfeld auch eine islamistische Nein-Kampagne, der unter anderen die Saadet Partisi angehörte, also jene Partei, die wie die AKP aus der alten Fazilet-Partei Necmettin Erbakans hervorgegangen ist.

Auch die rechtsextreme MHP war gespalten. Während die offizielle Parteiführung für das Präsidialregime warb, führte die wichtigste Konkurrentin des Parteichefs eine eigene rechtsnationalistische Nein-Kampagne.

Permanente Mobilisierung

Um das neue Präsidialregime in Kraft treten zu lassen, muss Erdoğan nun erst einmal Neuwahlen durchführen, und es ist angesichts dieses knappen Ergebnisses keineswegs klar, dass er noch eine Mehrheit hinter sich hat. Erdoğan hat in den ersten Tagen nach der Abstimmung nicht auf Ausgleich gesetzt, sondern auf weitere Konfrontation. Schon in einer Siegesrede erwähnte er erneut das Ziel, die Todesstrafe wiedereinzuführen. Auf die Türkei warten damit weitere Monate eines sich zuspitzenden Wahlkampfs, der wohl nicht weniger konfrontativ sein wird als die Abstimmung vom vergangenen Sonntag.

Das System Erdoğan funktioniert mittlerweile nur noch durch permanente Mobilisierung der eigenen Gefolgschaft. Es ist eine Liebesgeschichte und ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Führer und seinen Massen geworden.

Nicht zu Unrecht fürchten sich manche liberale Intellektuelle deshalb bereits vor einem Bürgerkrieg. Genau diese Furcht lässt manche jedoch in ihrem Widerstand zögern. Sicher bleibt damit nur, dass die Türkei weiterhin unruhigen Zeiten entgegensehen wird. Der Autoritarismus der derzeitigen Herrscher ist auch ein Ausdruck ihrer Unsicherheit. Beide Seiten scheinen sich derzeit voreinander zu fürchten – und Furcht ist tatsächlich ein Rohstoff, aus dem schon mancher Bürgerkrieg entstanden ist. (Thomas Schmidinger, 21.4.2017)