Säuberungen und eine blaue Rose: Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen.

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Nun hatte die Banlieue-Gewalt also auch Mitry-Mory erreicht. In der kleinen Gemeinde beim Pariser Flughafen Roissy brannten in einer einzigen Nacht dreizehn Autos. Ein gefundenes Fressen für den lokalen Front National. Ihr Vertreter Adrien Desport twitterte als erster Bilder über die verkohlten Wracks, und auf Facebook legte er gar Zeugnis von einer persönlichen Attacke gegen sich ab. Verletzt, aber heldenhaft widerstand er der "racaille", dem Abschaum der Vorstädte, wie sich in Frankreich viele ausdrücken.

Heute sitzt der einstige Vize des Front National (FN) im Département Seine-et-Marne hinter Gittern und darf dort über den Tatbestand der "eingebildeten Aggression" nachsinnen. Adrien Desport hatte das Feuer nämlich selber gelegt, um das angebliche "Gefühl der Unsicherheit", das die Einwohner von Mitry-Mory plage, zu belegen.

Suspendierungen

Parteichefin Marine Le Pen handelte peinlich berührt, aber prompt: Sie suspendierte den 27-Jährigen von seinen Parteiämtern. Suspendieren ist derzeit Mode im FN. Suspendiert wurde zum Beispiel Anne-Sophie Leclère, eine junge Lokalkandidatin aus Rethel in den Ardennen, welche die dunkelhäutige Ex-Justizministerin Christiane Taubira mit einer Äffin gleichgesetzt hatte ("Ich sähe sie lieber an die Baumäste geklammert als in einer Regierung.").

Suspendiert wurde auch Logan Djian, Mitglied des ehemals berüchtigten rechtsextremen Studentenverbandes "Gud", dessen Mitglieder sich "schwarze Ratten" nannten. Der Kraftprotz hatte sich das Emblem einer SS-Division des Zweiten Weltkrieges auf seinen Bizeps tätowieren lassen. Das verbarg er, wenn er sich zusammen mit Le Pens Nichte Marion fotografieren ließ.

Der einstige FN-Lokalabgeordnete Jacques Gérard zog sich selber zurück, nachdem er einem maghrebstämmigen Gemeindevertreter bei einer Weltkriegszeremonie in Tournan-en-Brie ohne erkenntlichen Anlass bedeutet hatte: "Deppen wie dich habe ich während des (Algerien-)Kriegs etliche erledigt." Ein FN-Mann entschuldigte den Spruch mit dem hohen Alter des 80-Jährigen.

Umgekehrt schloss Marine Le Pen im März das FN-Mitglied Benoît Loeuillet aus der Fraktion im Regionalrat der Côte d'Azur aus, da er erklärt hatte, es habe im Holocaust "nicht massenhaft Tote" gegeben. Alexandre Gabriac war aus der Partei ausgeschlossen worden, weil er die Dummheit begangen hatte, seinen Hitlergruß unverhüllt ins Internet zu stellen.

Betont republikanisch

All das passt nicht ins neue Parteibild. Denn im Unterschied zu ihrem Vater Jean-Marie, der noch ein richtiges Scheusal war und ist, gibt sich seine Tochter betont republikanisch, um in den Élysée-Palast einzuziehen. Dazu braucht sie die Stimmen von über 17 Millionen Franzosen. Und die stehen, so die unerbittliche Wahllogik, wohl nicht alle auf Nazisymbole.

Vorbei die Zeiten, als Marine Le Pen ihren Vater wortreich verteidigte, wenn er die Gaskammern des Zweiten Weltkrieges als "historisches Detail" abtat. 2015 schloss sie ihn aus der Partei aus, die er vierzig Jahre zuvor selber gegründet hatte. Vorsichtig, aber entschlossen säuberte sie die Formation, personell wie ideell.

In ihrer aktuellen Kampagne vermeidet sie jeden Hinweis auf den Front National und sein Flammenlogo, das auf die italienischen MSI-Neofaschisten zurückgeht. Vielmehr stützt sie sich auf ihre eigene Bewegung "Rassemblement Bleu Marine" (RBM), die eine blaue Rose zum Emblem hat. Ihre Geschichtshelden sind nicht Mussolini, Pétain oder die französischen Foltergeneräle des Algerienkriegs, denen ihr Vater nahestand und als Leutnant tatkräftig zur Seite stand.

Die marineblaue Marine eifert politisch korrekt Jeanne d'Arc nach und will den zweiten Flugzeugträger Frankreichs, den sie im Falle ihres Wahlsieges bauen würde, nach dem früheren Kardinal Richelieu benennen. So sieht es Vorschlag 121 ihrer 144 "präsidialen Verpflichtungen" vor, die Marine Le Pen im Februar vorgestellt hatte. Erstmals verzichtet sie auf die Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe, die Frankreich 1981 abgeschafft hatte.

Spiel der Demokratie

In Punkt fünf verspricht sie dafür, Volksinitiativen – und Referenden aufgrund von 500.000 Unterschriften zuzulassen, wie das in der Schweiz seit langem üblich sei. In Punkt 27 will sie das in Frankreich sakrosankte Wohnsitzprinzip abschaffen, sodass in Frankreich geborene Immigrantenkinder wie etwa in Deutschland nicht mehr automatisch Franzosen würden.

Marine Le Pen spielt heute das Spiel der Demokratie, während ihr Vater außerhalb des Systems geblieben und dessen Vertreter nur provoziert hatte, ohne ernsthaft auf einen Wahlsieg hinzuarbeiten. Marine strebt ganz ernsthaft die höchsten Weihen der Republik an.

Und noch etwas hat sich radikal geändert: Während Papa Jean-Marie in seiner Villa im schicken Pariser Vorort Saint-Cloud wirtschaftsliberale Thesen vertrat, entdeckt die Tochter ihr soziales Herz: Sie will die Vermögenssteuer beibehalten und die Einkommenssteuer für die Armen senken (Punkte 74 und 75), was sonst nur Linkskandidaten vorsehen. Auch will sie aus dem Nato-Kommando austreten und die Freihandelsgespräche abbrechen.

Zu links für die AfD ...

Hand aufs Herz: Ist das noch rechtsextrem? Ist dieses Attribut, mit dem man in Paris Le Pen senior wie junior charakterisiert, noch gerechtfertigt, wenn die "Alternative für Deutschland" in ihrem Land nur als rechtspopulistisch bezeichnet wird? Im Vergleichstest der Salonfähigkeit kann sich Marine sehen lassen.

Anders als Frauke Petry hält sie den Islam heute für "kompatibel" mit der Republik. Wohl drischt sie bei jeder Gelegenheit auf den "unterdrückerischen Islam" ein, neuerdings auch zwecks "Verteidigung der Frauenrechte" (Wahlversprechen Nummer neun). Aber in klarer Abgrenzung zu ihrem Vater, diesem Nostalgiker der "Algérie Française", wiederholt sie, die Harkis, die algerischen Hilfstruppen der französischen Armee im Algerienkrieg, hätten bewiesen, dass man sehr wohl "Patriot und Moslem" sein könne.

Vielleicht denkt Marine Le Pen nicht, was sie sagt. Aber gesagt hat sie es. Rechtsextrem? Der AfD-Mann Georg Pazderski nennt den Front National eine "sozialistische Partei". Das ist nicht ganz falsch, wenn man noch – nüchtern und ohne Polemik betrachtet – das Adjektiv "national" davorsetzt. Marine lacht im Gespräch nur darüber, und Marion Maréchal-Le Pen meint ehrlich entrüstet: "Hören Sie doch endlich auf, uns als Faschisten zu bezeichnen!" Nur weil ihr Bekannter Logan Djian ein SS-Wappen am Arm trägt.

Tante Marine ortet die Vaterlandsfreunde heute sogar in den Vorstadtzonen: Zusammen mit dem Ex-Sozialisten Guy Deballe lancierte sie 2015 ein Kollektiv namens "Banlieues Patriotes". Der 43-jährige Zentralafrikaner Deballe bestreitet, eine Alibifigur zu sein. Auf jeden Fall ist er ein bildhafter Ausdruck der "dédiabolisation", der Entteufelung des Front National.

"Hygienische Welt"

Noch bei den Präsidentschaftswahlen 2012 hatte sich rassisches Gedankengut in das FN-Wahlprogramm geschlichen, als es sich unter anderem an die "weißen heterosexuellen Männer" richtete. Auch dieser Fauxpas ist nun ausgemerzt. Nach der letzten marineblauen Säuberung stellt sich die FN-Kandidatin nun hinter die Republik, in deren Namen Linke und Bürgerliche bisher Front gegen die Frontisten gemacht hatten.

Marine ist jetzt "clean". Im Wahlkampf 2017 schimpft sie nicht mehr wie ein Pariser Taxifahrer, sondern präsentiert sich auf Plakaten mit dem beruhigenden Titel "La France apaisée", Frankreich im Frieden. Wüste Worte und böse Sprüche sind nicht mehr nötig – diejenigen, die dafür anfällig sind, holt weiterhin Jean-Marie Le Pen ins Boot. In einer Umfrage bezeichneten sich 82 Prozent der FN-Mitglieder als "rassistisch". Davon sind 43 Prozent "eher rassistisch", 39 Prozent "ein wenig". Vive la nuance.

Nein, Marine muss nicht länger ausfällig werden: Sie weiß, und die Antisemiten im Land wissen, wer gemeint sein könnte, wenn sie sagt, dass die EU-Kommissare in Brüssel "ihre Befehle bei Goldman Sachs holen". Der Feind ist laut der FN-Kandidatin das "Kapital", die "Kaste", die "Hyperelite" oder die "globale Finanz".

Die sei die Antipode des realen Frankreichs mit seinen Arbeitern und Bauern. Sie wolle ihr Land in eine "hygienische Welt" verwandeln, "in einen Touristenpark für ein paar Sommermonate", ein großes Disneyland, ein Indianerreservat, in dem die letzten Landwirte Landschaftsgärtner würden.

... oder "Camembert-Faschismus"

Das ist nicht einfach dahergeredet, sondern rechte Ideologie pur: Schon der Ultranationalist und Antisemit Charles Maurras hatte "das reale Land" für das Vichy-Regime von Marschall Pétain theoretisiert. Jetzt kehrt der Ausdruck zurück: Im März organisierten rechtsnationale Kreise in Paris-Rungis ein Fest des "pays réel". Le Pen wählt diesen Ausdruck sehr bewusst, um ihn in Kontrast zur virtuellen Welt der Finanzkaste zu setzen.

Zeugt das nun von einem "Camembert-Faschismus", wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vor Jahren einmal schrieb? Gemeint war der ungute Geruch einer "französischen Ideologie" (Bernard-Henri Lévy) mit antiamerikanischen, antisemitischen und antikapitalistischen Ingredienzen. Spuren davon finden sich aber auch heute noch in der marineblauen Weichküche.

Le Pen schafft es gar, vom "Totalitarismus des Geldes" eine Brücke zum "islamischen Totalitarismus" zu schlagen: In einer geradezu paranoiden Logik behauptet sie, die "Finanzelite" hole absichtlich Billig-Immigranten nach Frankreich, um auf die Löhne der wackeren Arbeiter drücken zu können; das führe zur Islamisierung und Fragmentierung der französischen Nation, letztlich zu ihrem Untergang.

Trump und LePen

Nach den Anschlägen von Toulouse 2012 hatte Marine Le Pen lautstark gefragt: "Wie viele Mohamed Merahs sind wohl in all den Schiffen und Flugzeugen, die jeden Tag voller Immigranten nach Frankreich kommen?" Dass der Täter Merah in Frankreich geboren war, tat nichts zur Sache.

Die gleiche Annahme hatte 1973 schon der rechtsextreme Schriftsteller Jean Raspail in dem Buch "Le Camp des Saints" (Das Heerlager der Heiligen) getroffen. Der in Paris lebende Autor beschreibt darin, wie Frankreich von einer "stinkenden" Welle von Indern überschwemmt werde. Sie würden in ihren Rostkähnen an die Côte d'Azur gespült, verbreiteten sich wie Ratten über das Land und zerstörten die christliche Zivilisation.

Le Pen empfiehlt den auch auf Deutsch verkauften Roman immer wieder. Und nicht als einzige: Auch Steve Bannon, der Berater des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, hatte in seinen Breitbart-Radiosendungen mehrfach auf Raspails Roman verwiesen, um darauf seine These zu formulieren, der Westen erlebe "keine Migration, sondern eine Invasion". Vielleicht hatte er Le Pen im Gegenzug die These der "weißen heterosexuellen Männer" offeriert.

Bannon ist nicht das einzige Verbindungsglied zwischen Trump und Le Pen. Auch der Trump-Anhänger David Duke, bekannt als ehemaliges Mitglied des Ku Klux Klans, war unlängst voll des Lobes für die Französin.

Sie vergisst darob sogar ihren Antiamerikanismus. Anfangs dieses Jahres reiste sie nach New York und wartete in einem Café des Trump Towers auf einen spontanen Termin mit dem neuen US-Präsidenten. Daraus wurde zwar nichts, dennoch will sie im Fall ihres Wahlsieges eine Dreierallianz mit Trump und Wladimir Putin zimmern. "Wir werden mit den Vereinigten Staaten und Russland eine gemeinsame Sicherheitsinitiative ergreifen", meint die Französin, als wäre sie schon im Élysée-Palast, dem Herzen der Republik. (Stefan Brändle aus Paris, 22.4.2017)