Choreografin Meg Stuart im Wiener Tanzquartier mit ihrem Stück "Hunter": Autobiografie als Collage in einem rastlosen Raum verliert sich selbst, um sich schließlich zu befreien.

Foto: Iris Janke

Wien – Sie sind immer da, all die Bilder, Geschichten und Blessuren des eigenen Lebens – irgendwo im Gedächtnis bei Körpertemperatur mehr oder weniger gut aufgehoben. Diese Last hat die belgisch-deutsche Choreografin Meg Stuart, geboren 1965 in New Orleans, dazu getrieben, die Schränke ihrer Vergangenheit aufzureißen und eine Unmenge an herausstürzenden Schätzen vor sich herzujagen. In dem beinahe zweistündigen Solowerk Hunter (2014), das gerade im Tanzquartier Wien zu sehen war, hat sie die Spuren dieser Hatz protokolliert.

Als normale autobiografische Arbeit geht Hunter keinesfalls durch. Denn Stuarts choreografisches Jagdprotokoll ist geknittert, zerschnitten, überzeichnet und neu zusammengeklebt. So hat die Künstlerin aus Hunter eine Darstellung ihres unordentlichen Gedächtnisses gemacht. Im Mittelpunkt des Stücks stehen ausgedehnte Tanzpassagen, die zeigen, wie Stuart von der Jägerin zur Gejagten wird. Das stürzende Material hat sich gegen die Tänzerin gewendet, ist durch ihren Körper gefahren und hat diesen mitgerissen, seine Gestalt verformt, sie zu ihrer Marionette gemacht und schlussendlich ihren Widerstand provoziert.

Verloren in bunten Weiten

Im Stück hat sie wieder die volle Kontrolle. Doch ihrem Tanz ist zu entnehmen, wie hart dieser Kampf gewesen sein muss – auch wenn Meg Stuart zu Beginn von Hunter noch harmlos an einem Tisch bastelt.

Was da passiert, ist in einer Videoprojektion zu beobachten. lnmitten eines gespinsthaften Gestells (Bühne: Barbara Ehnes) schneidet sie Fotos aus, baut eine kleine Installation, fackelt darin Papier ab, steht auf und tanzt zu einer Musik-Sound-Stimmen-Collage von Vincent Malstaf, die Stuarts Protokoll einen rastlosen Raum gibt.

Stimmen – von Stuarts Eltern, Bruder, Mitarbeitern -, Songs und elektronische Atmosphärenverstärker schnalzen aus Malstafs Soundmischer und -häcksler. Etwa in der Mitte des Stücks zieht Stuart einen riesigen, ausgestopften Mantel über, in dessen bunten Weiten sie sich verliert. Erst nach erfolgter Selbstbefreiung spricht die Choreografin selbst und live.

Ein unerwünschtes Geschenk

Sie erzählt unter anderem vom Laientheater ihres Vaters, in dem so grottenschlecht gespielt wurde, dass es ihr als Kind buchstäblich die Sprache verschlug. Oder, wie sie als Jugendliche ihren Hund, den sie auf den Namen Anonymous getauft hatte, verwildern ließ. "Ich weiß nicht, warum alle Yoko Ono hassen", sagt sie später. Dann singt sie zur Einspielung von Yoko Onos Revelations und lässt den betulichen Song – "Bless you for what you are" – in grandioser Kakophonie einen hässlichen Tod sterben.

Kunst sei so etwas wie ein unerwünschtes Geschenk, mit dem man irgendwie leben müsse, hat sie zuvor geätzt. Immer wieder steuert Stuart ihren Körper durch Film-, Foto- und Videoprojektionen (Chris Kondek), die zwischen Familienidyllen oder Landschaftsaufnahmen auf Super 8 und Experimentalfilm-Bildstörfeuer wechseln.

Am Ende wird alles gelöscht, die Bilder, der Lärm, die Bewegung und das Licht. Hunter ist ein Schatz von finsterer Brillanz. (Helmut Ploebst, 22.4.2017)