Genmutationen spielen eine zunehmend wichtige Rolle in vielen Bereichen der Medizin. Wissenschafter vom Universitätsklinikum und Hertie Institut für klinische Hirnforschung Tübingen ist es nun gelungen, Mutationen in einem bestimmten Gen, die eine Epilepsie auslösen, systematisch einem Therapieeffekt zuzuordnen. Profitieren können davon vor allem Neugeborene und Säuglinge, die an schweren epileptischen Anfällen leiden, und nun gezielter behandelt werden können. Aber auch für ältere Patienten mit solchen Gendefekten kann dies relevant sein. Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Forscher im Fachmagazins BRAIN.

Epilepsien sind Erkrankungen, die circa ein Prozent aller Menschen betreffen und durch plötzlich auftretende Anfälle gekennzeichnet sind. Bei der Erkrankung ist die Erregbarkeit der Nervenzellen im Gehirn gestört. Mutationen im Natriumkanal-Gen SCN2A sind eine seltene, aber wichtige Ursache kindlicher Epilepsien sowie weiterer neurologischer Erkrankungen und Entwicklungsstörungen, die auch im späteren Lebensalter noch relevant sind.

"Insbesondere bei schwer verlaufenden und sehr schwierig zu behandelnden Epilepsien im Kindesalter, die häufig auch mit Entwicklungsstörungen einhergehen, hilft uns die Genetik bei der Suche nach der Ursache, bei der Beratung der betroffenen Familien und zunehmend auch bei der Behandlung der Patienten", sagt Markus Wolff, Leitender Oberarzt der Abteilung Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Tübingen.

Zeitpunkt des Krankheitsbeginns ausschlaggebend

Ein internationales Forschungsteam hat nun herausgefunden, dass die Art der SCN2A Mutationen ganz wesentlich ist für die Behandlung der betroffenen Patienten. Bei der Charakterisierung der Epilepsien von mehr als 70 Kindern mit SCN2A Mutationen und deren Behandlungsversuchen mit verschiedenen Antiepileptika stellten sie fest, dass die Epilepsie bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder in den ersten drei Lebensmonaten beginnt, bei allen anderen später, bis zum Alter von 8 Jahren.

Kinder mit einem frühen Krankheitsbeginn profitierten dabei deutlich von einer medikamentösen Therapie mit so genannten Natriumkanal-Blockern. Bei den Kindern mit spätem Beginn hatten dieselben Substanzen jedoch keine oder sogar negative Effekte. Wenn rasch Anfallsfreiheit erzielt werden konnte, verlief die Entwicklung der Kinder zudem insgesamt günstiger.

Therapieeffekt gut vorhersagbar

Durch eine funktionelle Charakterisierung der Effekte einzelner Mutationen konnte das Team aus Ärzten und Wissenschaftlern den zugrundeliegenden Mechanismus aufklären. Es zeigte sich, dass SCN2A Mutationen entweder eine Überfunktion oder eine Unterfunktion des Natriumkanals bewirken können. Überfunktionen, die nur bei frühem Krankheitsbeginn zu finden sind, werden durch Natriumkanal-Blocker deutlich abgemildert. Unterfunktionen, die mit einem späten Krankheitsbeginn einhergehen, werden hingegen verstärkt.

Der Therapieeffekt bei einer SCN2A Mutation ist also durch den Krankheitsbeginn und die Art der Epilepsie sehr gut vorhersehbar. "Dies ist vor allem für Neugeborene und Säuglinge mit schweren und häufigen Anfällen sehr wichtig, die rasch der richtigen Therapie bedürfen", erklärt Wolff. Da SCN2A-assoziierte Epilepsien sich häufig bis ins Erwachsenenalter fortsetzen, kann dies auch für Erwachsene relevant werden, die z.B. allein durch das Absetzen der falschen Medikamente profitieren können.

"Die Genetik eröffnet uns damit eine neue Ära in der Behandlung von Epilepsiepatienten, ganz im Sinne einer nach dem Gendefekt individualisierten Behandlung", sagt Holger Lerche, Ärztlicher Direktor der Tübinger Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie und am Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung der Universität Tübingen. (red, idw, 25.4.2017)