Bis zu 15 Luftschläge soll die türkische Luftwaffe nach Augenzeugenberichten aus Sindschar gegen Stellungen von kurdischen und êzîdîschen (kurdisch für jesidisch) Einheiten in der Nacht auf Dienstag durchgeführt haben. Betroffen waren davon aber auch Zivilisten. Jesidische Flüchtlinge berichten, dass sie in der Nacht von den Einschlägen der türkischen Bomben aus dem Schlaf gerissen worden sind. Die Luftschläge erfolgten laut jesidischen Quellen in der Nähe mehrerer Flüchtlingslager, in denen sich seit August 2014 Tausende jesidische Flüchtlinge aufhalten. Bis vier Uhr morgens hätte die türkische Luftwaffe die Region bombardiert. Eine genaue Opferzahl liegt bislang nicht vor. Jesiden aus der Region sprechen von etwa 20 Opfern.

Kämpfer der Widerstandseinheiten von Singal YBS auf dem Berg Sindschar.
Foto: Thomas Schmidinger

Sindschar als Spielball der regionalen Konflikte

Als "Kampf gegen den Terror" betrachtet die türkische Regierung einmal mehr ihre Luftangriffe auf die kurdischen Gebiete in Syrien (Rojava) und die Siedlungsgebiete der Jesiden in Irakisch-Kurdistan. Tatsächlich richteten sich die in der Nacht auf Dienstag geführten Militärschläge gegen die in Syrisch-Kurdistan regierende Schwesterpartei der PKK, die Demokratische Unionspartei PYD und die von dieser gegründeten Volksverteidigungseinheiten YPG sowie gegen eine mit der PKK verbündete Miliz der Jesiden, die Widerstandseinheiten von Şingal YBŞ. Letztere hatte gemeinsam mit der YPG und PKK im Sommer 2014, als der sogenannte Islamische Staat die Jesiden in Sindschar überfiel, eine wichtige Rolle bei der Rettung der Überlebenden auf dem Berg Sindschar gespielt. Seither sind die YBŞ eine von mehreren Milizen, die in der Region präsent sind.

Die Spannungen zwischen YBŞ und den kurdischen Peschmerga der PDK – mit den HPÊ von Heydar Şeşo dazwischen – waren schon im Sommer 2016 unübersehbar. Auch die Spannungen in Syrisch-Kurdistan (Rojava) zwischen PYD/YPG und Kurdischem Nationalrat haben in den vergangenen Monaten zugenommen. Die innerkurdische Rivalität zwischen Masud Barzanis PDK aus dem Irak und der PKK spitzt sich seit Monaten gerade in Sindschar zu. Anfang März kam es in diesem Zusammenhang auch zu einer kurzen militärischen Auseinandersetzung zwischen den von Masud Barzani ausgerüsteten und unterstützten sunnitischen Rojava-Peschmerga und den YBŞ.

Kriegspartei Türkei

Die Luftangriffe der Türkei dürften in diesem Konflikt eine neue Eskalationsstufe darstellen. In der Nacht auf Dienstag ging es nicht mehr um einen innerkurdischen Konflikt. Vielmehr erhält der Konflikt durch den türkischen Angriff und dessen Verurteilung durch den Irak eine internationale Komponente. Zu den Toten auf kurdischer Seite zählen diesmal auch keineswegs nur Angehörige der YBŞ, sondern neben Zivilisten angeblich auch Angehörige der Peschmerga, also der zu Masud Barzanis Regionalregierung Kurdistans zählenden Rivalen der YBŞ.

Die Türkei greift damit zu einem Zeitpunkt militärisch ein, in dem in der Region die Kämpfe gegen den Islamischen Staat an Intensität gewinnen. Viel wichtiger dürfte allerdings wohl die Tatsache sein, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan innenpolitisch durch den knappen – und von Wahlfälschungsvorwürfen begleiteten – Ausgang seines Referendums unter Druck geraten ist und mit seinem "Kampf gegen den Terror" einmal mehr auf die nationalistische Karte setzen will. Die Leidtragenden dieser Politik sind jene, die sich am wenigsten wehren können: Die Opfer des Genozids von 2014, die Jesiden von Sindschar. (Thomas Schmidinger, 25.4.2017)

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