Eine ganz harte Nuss: "The Dragon" Ding Junhui.

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"The Jester from Leicester" Mark Selby.

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Sheffield – Rob Walker ist der Mann, dem die meisten Snooker-Profis ihren Spitznamen verdanken. Der Sport-Moderator ist bereits seit zehn Jahren die Stimme des Crucible Theatres, er peitscht das Publikum ein, moderiert die Fernseh-Live-Übertragungen an und ruft die Gladiatoren zu Beginn jeder Session in die Arena: "Let’s get the boys on the baize!"

Freitag Abend heißt es "The Jester from Leicester" gegen "The Dragon", also Mark Selby gegen Ding Junhui. Momente vor dem Einmarsch der Gladiatoren verrät Walker noch, dass er froh ist, dass ab Sonntag die Final-Sessions dran sind. Nicht etwa, weil er erschöpft wäre – Rob Walker scheinen Energie und Elan niemals auszugehen. Aber die um 10 Uhr Ortszeit beginnenden Vormittags-Session werden damit Geschichte sein, denn im Finale wird nur noch nachmittags und abends gelocht: "Snooker ist einfach nicht dafür gemacht, um 10 Uhr Vormittag gespielt, angeschaut, anmoderiert oder übertragen zu werden", scherzt Walker mit der Kamerafrau, bevor er dem Publikum an diesem Abend mit Stimme und Gestik so einheizt, dass der Saal schon kocht, bevor die beiden Spieler sich überhaupt noch an den Tisch begeben haben.

Listiger Drache

Ein guter Startschuss für eine Session, die sich Frame für Frame zum packendsten und hochklassigsten Duell mausert, das diese Weltmeisterschaft bisher gesehen hat. Selby, der das Match am Vormittag mit 6:2 in seinem Sinne gedreht hat, scheint zu Beginn ungemein entschlossen, sich das Heft in dieser dritten Session nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Aber je länger die Partie dauert, umso mehr setzt der scheinbar emotionslose Ding Junhui Selby ausgerechnet auf dessen Spezialgebiet heftig unter Druck: Die Safety-Duelle, die Mark Selby sonst wie kein anderer zu führen versteht, neigen sich immer öfter zu Gunsten des Chinesen, der seinen Gegner damit zu Fehlern zwingt und diese auch in gewonnene Frames umzusetzen versteht.

Freilich spielt der Weltmeister keinesfalls schlecht. Beide Kontrahenten begeistern mit hervorragender Spielball-Kontrolle und großartig herausgespielten Century-Breaks. Aber Selby gelingt es einfach nicht, den chinesischen Drachen abzuschütteln. Und das setzt dem Weltmeister Frame für Frame sichtlich auch psychologisch zu.

Rumpelstilzchen Selby

Als Selby sich beim Stand von 11:9 bei einer mit dem Hilfsqueue zu spielenden Roten von Bewegungen in der BBC-Kommentatoren-Kabine gestört fühlt, gehen dem Weltmeister fast die Nerven durch. Er verschießt Rot und starrt danach sekundenlang voller Verachtung in Richtung des vermeintlichen Unruheherds. Auch das heftige Aufstampfen mit dem Fuß, das von Selby zuletzt ganz zu Beginn seiner Erstrundenpartie zu sehen war, hat die Nummer eins der Rangliste an diesem Abend wieder im Repertoire.

Als Selby dann einen fast schon verloren geglaubten Frame mit einer perfekten Clearance stiehlt und seine Führung noch einmal auf 12:10 ausbaut, packt der "Jester from Leicester" sogar die Beckerfaust aus. Zu Scherzen ist er zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr aufgelegt. Woran auch das Publikum seinen Anteil haben mag: Während Selbys Aktionen mitunter fast pflichtschuldig beklatscht werden, bricht das Auditorium bei Dings Schmankerln immer wieder in frenetischen Jubel aus. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass hier in Sheffield ein Engländer gegen einen Chinesen um den Einzug ins WM-Finale ringt.

Ding, der die Unterstützung des Publikums äußerlich ungerührt zur Kenntnis nimmt, dreht in den letzten beiden Frames des Abends noch einmal an der Qualitätsschraube. Er bringt Selby in die für den Weltmeister ungewohnte Situation, die meiste Zeit still sitzen und seinem Gegner beim Punktesammeln zusehen zu müssen. Als der Chinese den letzten Frame mit einem weiteren Century-Break für sich entscheidet und zum 12:12 ausgleicht, gibt es im Crucible kein Halten mehr. Es wird begeistert gepfiffen und gejohlt, als hätte ein Lokalmatador soeben den Titel geholt. Mark Selby verlässt das Theater mit eingeschlafenem Gesicht, während über Ding Junhuis Lippen zum ersten Mal an diesem Abend erkennbar ein Lächeln huscht.

Schwache Partie

Das Semifinale zwischen John Higgins und Barry Hawkins vermag am Freitag Nachmittag dagegen wenig zu begeistern. Beide Spieler agieren unter ihrem Niveau. Letztlich ist es aber Higgins, der den Fehlerteufel etwas besser im Griff hat und die zweite Session der Partie erneut für sich entscheidet, womit er 10:6 in Front liegt. Eines aber scheint gewiss: Der Sieger dieses Matches wird sich im Finale warm anziehen müssen – egal, ob der Gegner dann Mark Selby oder Ding Junhui heißt. (Anatol Vitouch aus Sheffield, 29.4.2017)