Lukas Müller erinnert sich: "Gleich nach dem Aufschlag habe ich gewusst, dass es schlimm ist."

Foto: Franz Oss

Bad Häring – Um neun Uhr steht Gehschule auf dem Programm. Im Rehazentrum Bad Häring im Tiroler Unterland nehmen die ersten Patienten Aufstellung an den 16 Meter langen Barren, die ihnen dabei als Stützen dienen. "Die brauche ich nicht mehr", sagt Lukas Müller. Er schnappt sich zwei schwarze Krücken und zieht sich daran aus seinem Rollstuhl hoch. Damit die Übung noch schwieriger wird, dreht er sie um, sodass die Unterarmstützen nach vorne zeigen. Schritt für Schritt geht er nun den Gang hinunter. Physiotherapeutin Stephanie Neffe beobachtet jeden davon mit Argusaugen: "Das ist richtig hartes Training."

Als ehemaliger Profisportler ist Müller harte Trainingsroutine gewohnt. Der 25-Jährige war Skispringer und hatte es bis in den Weltcupkader der ÖSV-Adler geschafft. Doch am 13. Jänner 2016 veränderte ein Sturz beim Skifliegen am Kulm sein Leben dramatisch. Er kann sich bis heute an jede Einzelheit erinnern: "Gleich nach dem Aufschlag habe ich gewusst, dass es schlimm ist." Müller brach sich das Genick, der sechste und siebte Halswirbel sind betroffen. Die niederschmetternde Diagnose für den jungen Sportler lautet "inkomplette Querschnittlähmung".

Statt auf der Schanze trainiert Lukas Müller heute im Rehazentrum. Trotz spastischer Krämpfe in den Händen und Beinen schafft er schon einige Schritte nur auf Krücken. Das sehe zwar toll aus, sei aber nur bedingt alltagstauglich, sagt er.
Foto: Franz Oss

Gut ein Jahr später trainiert er wieder voll konzentriert in Bad Häring, wo man auf Querschnittpatienten spezialisiert ist. Die verunfallte Stabhochspringerin Kira Grünberg und auch Synchronschwimmerin Vanessa Sahinovic, die bei den Europaspielen in Aserbaidschan von einem Bus überfahren und lebensgefährlich verletzt wurde, wurden hier therapiert.

Lukas Müllers Blick ist auf die paar Meter Boden vor ihm gerichtet. Seine Unterarme sind so angespannt, dass sich jeder Muskel abzeichnet. Auf dem Weg zurück zum Rollstuhl wird er langsamer. Neffe erkennt sofort, dass ihr Schützling Hilfe braucht: "Jetzt wird er wieder weiß." Müller muss pausieren, sinkt erschöpft zurück in den Rollstuhl. Fünf bis sechs Wiederholungen dieser Übung, die auch Stiegensteigen beinhaltet, schafft er, dann ist Schluss.

"Das sieht zwar toll aus, es ist aber kaum alltagstauglich", sagt er. Denn die Schmerzen, die ihm jeder Schritt bereitet, sind schier unerträglich. Es klingt paradox, weil man meint, durch eine Querschnittlähmung würden die Betroffenen nichts mehr spüren. "Aber das ist nur oberflächlich so. Unsere schlimmsten Probleme sieht niemand", erklärt Müller und zwickt sich kräftig in den Oberschenkel. "Das spüre ich nicht. Kälte zum Beispiel auch nicht, was im Winter gefährlich werden kann wegen Erfrierungen." Als er beim Nachtslalom in Schladming zu Gast war, wären ihm beinahe die Füße abgefroren. Doch der Schmerz, der ihn permanent quält, sitzt tiefer, in der Hüfte, und er zermürbt. Müller muss ständig Medikamente einnehmen.

"Das ist mehr, als nur nicht mehr gehen können. Kaum jemand kann sich vorstellen, was in uns vorgeht."
Foto: Franz Oss

Er spricht sehr offen über seine Verletzung und die Folgen. "Mein Unfall ist in der Öffentlichkeit passiert, man kann ihn sich auf Youtube ansehen", begründet er diese Offenheit. Er will die Gesellschaft über die Probleme von Querschnittgelähmten aufklären: "Das ist mehr, als nur nicht mehr gehen können. Kaum jemand kann sich vorstellen, was in uns vorgeht."

Neben den Schmerzen ist es die Verdauung, die den Betroffenen zu schaffen macht. Sie funktioniere langsamer, erklärt Müller. Was dazu führt, dass er oft massenweise Abführmittel zu sich nehmen muss. Mittlerweile kann er zumindest wieder "normal" Wasserlassen. Anfangs war er auf einen Katheter angewiesen, wodurch es zu Situationen kam, in denen er den Harndrang nicht bemerkte. "Das ist sehr belastend." Auch über Sex redet Müller, der in einer Beziehung lebt, ganz offen. Ob man noch Gefühl im Penis hat, ob noch eine Ejakulation oder Erektion möglich ist, hängt von der Art der Verletzung ab. "Ich habe heute wieder einen Termin beim Urologen. Im Grunde muss man einfach probieren und schauen, was wie geht", sagt er. Und zur Not gäbe es ja noch Tabletten, die helfen.

Bei aller Offenheit und allen Rehafortschritten will Müller nicht über die Schwere seiner Verletzung hinwegtäuschen: "Ich bin kein Roboter. Ich habe oft daran zu beißen. Mal sind es ein paar Minuten, mal ein paar Stunden oder auch ganze Tage." Er fühlt sich weiterhin als Skispringer. Das werde sich nie ändern, sagt er. Und auch die Sehnsucht, wieder auf dem Balken zu sitzen und den Anlauf hinunterzurasen, werde nie vergehen. "Ich vermisse das Gefühl zu springen sehr." Wenn er von seinem Sturz am Kulm erzählt, packt ihn der Ehrgeiz: "Das wäre der beste Sprung meiner Saison gewesen. Der wäre sicher 220 bis 225 Meter gegangen."

An eine Heilung von Querschnittpatienten glaubt Müller nicht: "Mir ist bewusst, wie komplex Verletzungen des Rückenmarks sind."
Foto: Franz Oss

Heute sucht er sich seine Herausforderungen anderswo. Zum Beispiel bei der Therapieeinheit Rollstuhltraining. Dort lernte Müller, über Stiegen hinunterzufahren: "Das war mit dem Gefühl vom Skifliegen vergleichbar. Du darfst dir keinen Fehler erlauben." Auch Rollstuhlrugby spielt er in seiner Heimatgemeinde in Rif. Und am Sonntag wird er beim Wings-for-Life-Run in Wien an den Start gehen. An der Seite seines Kindheitsfreundes und Skispringerkollegen Thomas Morgenstern.

An eine Heilung von Querschnittpatienten, wie sie das erklärte Ziel der Wings-for-Life-Stiftung ist, glaubt Müller zwar nicht: "Mir ist bewusst, wie komplex Verletzungen des Rückenmarks sind." Trotzdem werte er den weltweiten Event und dass sich ein Großkonzern wie Red Bull dafür engagiere als positives Zeichen für alle Querschnittgelähmten.

An eine Zukunft ohne Rollstuhl glaubt Müller nicht. Aber an ein selbstständiges Leben. Auf dem Weg dorthin hat er bereits viele Stufen genommen: Er lebt alleine, fährt Auto und plant seine berufliche Laufbahn. Derzeit macht er eine Ausbildung in Private Banking und Investment, im Herbst will er an einer Universität inskribieren, wahrscheinlich in Krems.

Bis 10. Mai dauert die Reha in Bad Häring noch, dann kehrt wieder Alltag ein in Lukas Müllers Leben. Er wäre zwar gerne noch länger geblieben, will aber keinem Akutfall den Platz wegnehmen. Wie auch bei den Gehversuchen auf Krücken ist sein Blick nach vorne gerichtet: "Ich kann nur beeinflussen, was vor mir liegt, nicht das Vergangene." (Steffen Arora, 6.5.2017)