Im Blogbeitrag "Von der entkoffeinierten Sexualität zur entpolitisierten Politik" war die Rede vom Umgang der deutschen Bundesregierung mit der griechischen Staatsschuldenkrise im Jahre 2015. Dieser schien nicht so sehr durch "egoistische", das heißt machtpolitische und ökonomische Interessen motiviert, als durch abstrakte Prinzipien und einem "Fanatismus der Regeln". Fanatisch erscheint diese Haltung, insofern sie gänzlich abstrakt ist, sich also vom Bereich real existierender Objekte losgesagt hat.

Das legt den Schluss nahe, dass heute weite Teile der politischen Elite nicht weniger von asketischen Idealen durchdrungen sind als jene für die Gegenwart typischen "gewöhnlichen Subjekte", deren Verhältnis zur Arbeit, Freizeit und Sexualität – entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis – weder vom Materialismus noch vom Hedonismus  bestimmt wird, sondern ganz im Gegenteil von Askese und – Narzissmus.

Eine Theorie des Glaubens

Der Wiener Philosoph Robert Pfaller unterscheidet in Anlehnung an die Psychoanalyse zwei Existenzformen des Glaubens: "Bekenntnisglauben" und "Aberglauben". Im Falle des Bekenntnisglaubens ist Pfaller zufolge der Glaubende selbst mit den Inhalten des Glaubens identifiziert. Und bezieht aus dieser Identifikation Selbstachtung und Stolz. Dabei kommt es, in der Sprache der Psychoanalyse, zu einer Zunahme an "narzisstischer Libido" – auf Kosten von sogenannter "Objektlibido".¹

Die Zunahme an Selbstachtung geht also – um es wieder in der Alltagssprache zu sagen – mit einem Verlust an Lust einher. Der Bekenntnisglaube ist prinzipiell lustfeindlich und mit asketischen Idealen verknüpft. Typisch für den Bekenntnisglauben sind Aussagen wie "Ich, als Christ/Muslim/Sozialist ... bin der Meinung ... " oder der Luther zugeschriebene Satz: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders".

"Bekenntnisgläubig" sind aber auch Zeitgenossen, die aus ihrer Identifizierung mit ihrer Arbeit Stolz und Selbstachtung beziehen – an ihre Arbeit sozusagen glauben. Ein Glauben, der – wie im Blogbeitrag "Wie 'sexuelle Autonomie' die Lust tötet" gezeigt – häufig auf Kosten von "Objektlibido" geht. Sprich auf Kosten von Lust und von Liebe.

In der Öffentlichkeit schlüpfen wir in Rollen, spielen anderen was vor, das nicht unser Eigen ist.
Foto: AP/Joel Ryan/Invision

Um "Aberglauben" im Pfallerschen Sinn handelt es sich etwa dann, wenn ein Fan vor dem Bildschirm sein Fußballteam anfeuert oder den Spielern Ratschläge erteilt. Daran, dass ihn die Spieler im Fernsehen tatsächlich hören könnten, glaubt unser Fan natürlich nicht. Dennoch verhält er sich so, als glaube er daran. Weshalb er dem Zwang unterliegt, die Spiele seiner Mannschaft immer live mit zu verfolgen und sich mit Aufzeichnungen nicht zufrieden geben kann.

Würden wir unseren Fan fragen, ob er tatsächlich daran glaubt, dass die Spieler ihn hören können, würde er dies natürlich entrüstet zurückweisen. Er ist also – anders als der Bekenntnisgläubige – mit diesem "seinem" Glauben nicht identifiziert. Aus einem solchen Glauben, zu dem man sich nicht bekennt, kann man natürlich – im Unterschied zum Bekenntnisglauben – keine Selbstachtung beziehen.

Die Tyrannei der Intimität

Unser Beispiel verweist auf die spielerische, lustfreundliche Dimension des "Aberglaubens" – im Gegensatz zum asketischen, lustfeindlichen Bekenntnisglauben. "Aberglauben" als Spiel, genauer als Rollenspiel im sozialen Raum, liegt laut Pfaller auch der "Kultur der öffentlichen Darstellung" zugrunde, deren Schwund er in seinem Werk immer wieder beklagt.

"Bis [1968] hatten westliche Gesellschaften seit der Renaissance eine ausgeprägte Kultur der öffentlichen Darstellung entwickelt. Es war eine Kultur des "als ob", die deutlich zwischen Person und Rolle unterschied. In der Öffentlichkeit benahmen, kleideten, bewegten sich Leute anders, und sie sprachen anders. Sie erzeugten einen Augenschein, der für andere etwas darstellen sollte. Diese theatralische Dimension des öffentlichen Lebens wurde durch die Architektur öffentlicher Plätze unterstützt. So fungierte der öffentliche Raum als eine Art Bühne, die jeden zum Schauspieler für die anderen werden ließ." ²

"Es gibt", fährt Pfaller fort, "ein Verschwinden des Spiels [...], weil es einer Ich-fixierten Kulturentwicklung – in mehreren historischen Anläufen – gelungen ist, die öffentliche Sphäre den Ansprüchen des Privaten zu unterwerfen [...] Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich auch die in Form von elektronischen Kleingeräten in die Zwischenräume [...] des Alltagslebens eingedrungenen Spiele begreifen: [...] Während die urbanen Spiele der Höflichkeit dazu da waren, Geselligkeit und Austausch zu ermöglichen, sind die neuen intimen Spiele lediglich dazu da, zu signalisieren, dass im Moment kein solcher Austausch möglich ist. Die neuen Medienspiele dienen also dazu, das Spiel zu individualisieren und [...] sogar in der Öffentlichkeit intime Räume zu eröffnen. Das Spiel, das eigentlich eine Ressource der Geselligkeit wäre, [wird] nun in diese neu eröffneten Intimräume verbannt. Darin besiegelt sich die Tyrannei der Intimität."³

Handyspiele, wie "Pokemon Go", verhindern den Austausch untereinander und fördern die Ich-Fixierung.
Foto: APA/AFP/WILLIAM WEST

Ich ist ein Anderer

Hintertrieben wird die "Kultur der öffentlichen Darstellung" aber auch durch narzisstische – und asketische – Gebote wie: "Sei du selbst!", "Sei authentisch!", "Verwirkliche dich selbst!", die seit Jahrzehnten die Gegenwartskultur dominieren. Und die Fähigkeit und die Lust untergraben, im öffentlichen Raum etwas darzustellen, in fremde Rollen zu schlüpfen, anderen etwas "vorzuspielen", das sich vom "Eigenen" unterscheidet. Versiegt diese Lust und diese Fähigkeit, schwinden die Ressourcen der Geselligkeit – und letztlich die Lust und die Fähigkeit am gesellschaftlichen und am politischen Leben teilzuhaben.

Wie in den bisherigen Folgen dieser Serie zeigt sich auch hier: Desinteresse am politischen Engagement hat nichts mit unserem angeblichen Materialismus und Konsumismus zu tun, sondern ganz im Gegenteil mit narzisstischen – und asketischen Idealen.

Im übrigen ist die postmoderne Aufforderung, in unserem Inneren unser "wahres Selbst" zu suchen, und es zu verwirklichen, nicht nur problematisch, sondern in gewisser Weise unmöglich. Was wir unser Ich oder unser Selbst zu nennen pflegen, hat seinen Ursprung nicht in uns, sondern im Außen. Es sind andere, die uns den Namen geben. Die Sprache, die wir sprechen, kommt nicht aus den Tiefen unseres Selbst – wir müssen sie von anderen lernen. Und was wir über uns zu wissen glauben, das Bild, das wir uns von unserem Körper machen oder von unserer Persönlichkeit, ist (großteils) von Außen "importiert". Nach Freud gehört uns nicht einmal unser Unbewusstes – er nennt es "das innere Ausland". Ich ist, um es mit Rimbaud zu sagen, ein Anderer. (Sama Maani, 9.5.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, Frankfurt a.M. 2002, S. 57 f
² Robert Pfaller, Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft, Frankfurt a.M. 2008, S. 105
³ Ebd. S. 108

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