Wenn Ooqe oder Arqalo ein frisch zubereitetes Gericht aus dem mitgeführten, in der Kälte dauergefrorenen Seehund-, Moschusochsen- oder Eisbärenfleisch gut gelungen finden, drücken sie ihre Freude darüber durch das gutturale "Maramaraa" aus – "er liebt diesen Geschmack". Jeder holt sich seine Portion selbst vom Kochtopf über dem surrenden Primuskocher und verspeist sie aus einem Plastiknapf.

Kochen nach Art der Inuit.
Foto: Christian Mastnak
Seehund-Ragout.
Foto: Christoph Ruhsam

Der Raum ist in Dampf gehüllt, der durch die Luftfeuchtigkeit des stundenlangen Schneeschmelzens und Kochens in der kalten Jagdhütte oder im Zelt entsteht. Außen knirscht der Schnee und die Polarlichter tanzen über den blauverlaufenden Himmel. Die dauerhaft tiefen Temperaturen bringen eine fast klinisch reine Sauberkeit mit sich. Es gibt keine unangenehme Nässe, vor der man Kleidung und Gepäck schützen muss. In Bodennähe sind die Temperaturen immer unter dem Gefrierpunkt. Nur in einer Jagdhütte spürt man ab Hüfthöhe einige Plusgrade. Direkt über den surrenden Kochern bleibt aber genügend Wärme übrig, um die von den Tagesanstrengungen nass gewordenen Unterkleider sowie die feuchten Innenschuhe nach einer Skitour an einem Strick zu trocknen – den Rest trocknet der Frost über Nacht. Das jeweils andere Paar der beiden Kleidungsgarnituren, die jeder mit sich führt, lässt sich dank der geruchsneutralen Eigenschaften von Merinowolle am Morgen wieder gut anziehen.

Zum Nachtisch wühlt jeder in der anfangs unerschöpflich wirkenden Proviantkiste und zieht sich mit dänischer Schokolade, Keksen, Tee oder einem Trinkbecher voll heißer Schokolade in "sein Eck" zurück, um mit einer Stirnlampe am Kopf und Handschuhen an beiden Händen Tagebuch zu führen, zu lesen oder den Gedanken des Tages Raum zu geben. Die Stirnlampe gibt Licht für ein Leben im Schlafsack ab, wo es wohlig warm ist und jeder seine Privatsphäre hat. Der Abwasch ist denkbar einfach und rasch erledigt: Mit einem Stück Küchenrolle oder Klopapier wird der Plastiknapf rein gewischt. Zu lange darf man damit allerdings nicht warten, denn in Kürze friert alles fest und selbst der Löffel haftet dann fest am Napfboden.

Nach dem Essen friert alles sofort an.
Foto: Christoph Ruhsam
Ein Zelt von der berühmten Sirius-Schlittenpatrouille.
Foto: Christoph Ruhsam

Wintertierwelt

So weitläufig und unbewohnt die Landschaft immer vor uns liegt, so sehr trügt dieser Schein: An geschützten Stellen ragen Pflanzenköpfe aus dem Schnee und zeugen von einer spärlichen Sommervegetation, die aber doch ausreicht, um Schneehasen, Lemmingen, Füchsen und Moschusochsen für das ganze Jahr genügend Nahrung zu bieten. Ganz verzückt beobachten wir mehrmals reinweiße Hasen, die über das Schneegelände huschen. Um alle Nährstoffe aus den gefriergetrockneten Pflanzenhalmen zu bekommen, fressen sie auch immer wieder ihre eigene Losung. Zweimal verdauen hilft gegen den Hunger.

Winterblume.
Foto: Christoph Ruhsam
Arktischer Schneehase.
Foto: Christian Mastnak

Die mächtigen Moschusochsen wühlen mit den Hufen die Schneeschicht auf, um an vertrocknete Polarweidenblätter und Grasbüschel zu kommen. Entsprechend klein, kompakt und dunkel ist im Winter ihre Losung, die wir an den Lagerplätzen finden. Kein Vergleich zu den sommerlichen, fetten Ausscheidungen!

Arktische Weiden: Nahrung für Hase und Moschusochse.
Foto: Christoph Ruhsam
Moschusochsenlosung ist im Winter schwarz und hart.
Foto: Christoph Ruhsam

Der Rabe ist die mythische Vogelgestalt in der Erzähltradition der Inuit. Kein Wunder, ist er doch überall anzutreffen, immer auf Ausschau nach Raubtieren, um sich an deren Nahrungsresten zu betätigen. Das heisere Krächzen ist weit in der Stille des arktischen Winters zu hören.

Moschusochsen vor den Bergen Liverpool Lands.
Foto: Christoph Ruhsam
Der Rabe – mystischer Vogel der Inuit Mythen.
Foto: Christoph Ruhsam

Hohe Ehrfurcht haben wir vor den Eisbären, die als Meeresbewohner in den Treibeisgürteln der Ostküste von Liverpool Land leben. In Ittoqqortoormiit werden wir eindringlich gewarnt, das Siedlungsgebiet ohne Gewehr zu verlassen. Im Winter zieht es die Tiere an leicht zugängliche Futterquellen, besonders wenn der Festeisgürtel in den Fjorden alle Robben verdrängt. Manchmal kommen Eisbärenmütter mit ihren Jungen bis in den Ort. Auf einem einsamen Fußmarsch am nördlichen Ende des Hurry Fjords stolpern wir plötzlich über Eisbärspuren von zwei Bären – Mutter mit Kind?

Die Gefahr wird damit real und akut wahrgenommen. Die Schlitten mit den Gewehren sind außer Sicht- und Rufweite, jenseits der Fame Öer. Die Aufmerksamkeit springt im Nu auf höchste Wahrnehmungsstufe, aber was tun, wenn einer kommt? Hinter jedem Eishügel meine ich einen Bären zu erkennen. Wir beschleunigen unseren Schritt, aber die unebene, windgeformte Schneeoberfläche lässt uns nicht rasch vorwärts kommen und dämpft jeden Tritt. Ich fühle Hitze in mir aufsteigen und ziehe den beim Gehen einschränkenden Winteroverall aus. Reicht es, einem Bären den Overall hinzuschleudern? Gibt das genügend Zeit für eine Rettung in Richtung Hundeschlitten, wo die Jäger uns Schutz bieten würden?

Eisbärtatzen sind wirklich groß.
Foto: Christoph Ruhsam
Alleine mitten in der Eiswüste entdecken wir die Eisbärspuren.
Foto: Christoph Ruhsam

Wohl nicht, aber dieser Gedanke gibt Hoffnung und verdrängt die Bilder in unseren Köpfen, die wir von dem Einbruch eines Eisbären in eine der Jagdhütten noch im Kopf haben: Der Bär hat den auf Stelzen stehenden Hüttenboden aus festen, dicken Holzplanken einfach von unten her aufgerissen, um an die Hundeschlittennahrung zu kommen, die er selbst durch den verschweißten Plastiksack und die Hüttenwand gewittert hat.

Eisbären sind auch massive Holzfußböden kein Hindernis, um an Nahrung zu kommen.
Foto: Christoph Ruhsam
Eisfläche am Hurryfjord.
Foto: Christoph Ruhsam
Sublimationsblumen – Bei der Kälte geht die Feuchtigkeit aus der Luft direkt in Eiskristalle über.
Foto: Christoph Ruhsam
Die blaue Stunde.
Foto: Christoph Ruhsam

Aber nun haben wir die letzte Insel überschritten und der Blick auf die in der Ferne erkennbaren Hundeschlitten beruhigt. Als wir bei Ooqe und Arqalo eintreffen, betrachten sie aufmerksam die Fotos der Bärenspuren und halten mit den Fernrohren Ausschau. Nichts zu sehen. Die Spuren sind sicher einige Tage alt und die Bären weitergezogen ...

Die spirituelle Seite der Inuit

Ooqe deutet an einem der Abende seine schamanischen Fähigkeiten an. Der Morgen war nicht seine Zeit. Kein Wort war dann von ihm zu vernehmen. Erst nachdem Arqalo die sehnsüchtig erwarteten metallischen Pumpgeräusche am Primus erzeugt, beginnt er sich langsam zu bewegen und Aufwachlaute von sich zu geben. Abends hingegen kommt er immer wieder in Fahrt, stimmt unvermutet Inuit-Liedsequenzen an und im Rahmen der eingeschränkten Kommunikation auf Englisch konnte er richtig gesprächig werden. Durch Aud wurde Dänisch zu einer wertvollen Sprachergänzung – Dänisch und Norwegisch liegen nahe beisammen und Ooqe und Arqalo sprechen etwas mehr Dänisch als Englisch. So wurden auf Englisch nicht verstandene Fragen im Norwegisch-Dänischen wiederholt und ins Englische gebracht. Wir erfahren von den Alkoholbegrenzungen im Ort und verstehen besser, warum unser geschätzter abendlicher und morgendlicher Schluck würzigen Aquavits nicht angenommen wird.

Ein langer Abend beim Licht des Primuskochers.
Foto: Christoph Ruhsam
Licht und Wärme für den Magen.
Foto: Christian Mastnak

Als Ooqe an einem der Abende ein Inuit-Lied anstimmt und dazu eine virtuelle Inuit-Trommel schlägt, erleben wir etwas von der authentischen Stimmung einer Inuit-Gesellschaft. Mir kommt der Film "The Journals of Knut Rasmussen" in den Sinn. Ich hatte ihn mir kurz vor Expeditionsbeginn angesehen und erkenne eines der "Ajaja-Lieder" sofort wieder. Es ist genau eines dieser Lieder, die von der letzten Generation der Inuit aus Igloolik in Kanada in den 1990er-Jahren aufgezeichnet wurden. Diese kannten die Lieder noch aus mündlicher Tradition, bevor sie in feste Ansiedlungen übersiedelten.

Jeder nimmt die Stimmung dankbar in sich auf, die erst durch das Fertigwerden des Abendessens mit dem "Marmaraa" beendet wird. Ein anderes Mal erzählen Ooqe und Arqalo etwas von den Eskimos im Inneren des Scorsby Sunds. Welche Eskimos? Wir erkennen bald, dass "Grönländer" und "Inuit" für sie dieselbe Bedeutung haben und die von den Ur-Inuit durch dänische Vermischung abstammende Bevölkerung Grönlands bezeichnet.

Aber wer sind dann die Eskimos, von denen erzählt wird? "Eskimo" ist ja seit den 1970ern wegen der abwertenden Bezeichnung "Rohfleischesser" durch Inuit ersetzt worden. Und nun hören wir gebannt von den Erlebnissen der Jägergemeinde, die manchmal im Sommer auch in die hintersten Fjorde des weltgrößten und weitverzweigten Scorsby-Sund-Fjordsystems mehrtägige Bootsexpeditionen auf der Suche nach Moschusochsen und Meeressäugern unternimmt: Hunderte Kilometer von der Fjordmündung entfernt, dort wo das Inlandeis in mächtigen Eisströmen riesige Eisberge ins Meer kalbt, die dann viele Monate dahintreiben, bis sie sich in der 50 Kilometer breiten Fjordöffnung mit dem ostgrönländischen polaren Treibeisgürtel mischen.

Jameson Land mit den inneren Fjordsystemen des Scorsby Sund im Hintergrund.
Foto: Christoph Ruhsam
Die Festeiskante am Scorsby Sund bei Kap Brewster.
Foto: Christoph Ruhsam

Dort hinten stießen sie wiederholt auf eindeutige Hinweise auf Menschen, die in einer vor dem Hereinbrechen der Zivilisation bekannten Art leben: In den für Grönland üblichen Winterhäusern aus Stein und Torf. Überall im Land sind diese verschwunden und durch die dänischen bunten Holzhäuser oder in den größeren Orten der Westküste sogar durch Wohnblocks ersetzt worden. Wenn man sie heute noch findet, dann als verfallene Relikte oder als ausgediente Schuppen oder Schlittenhundverstecke. Aber dort hinten fanden sie neu errichtete, erst kürzlich benützte, mit frischen Aschehaufen im Inneren und Fischsperren in den nahen Bächen. Auf den riesigen Inseln des inneren Scorsby Sunds wurden mit dem Jagdfernrohr Rentiere gesichtet. Wenn sie es dann bis zu dem bewussten Platz geschafft hatten, wurden zurückgelassene Verkleidungen aus Rentierfell und Geweihen gefunden.

Siedlungsreste auf einer der Fame Öer im Hurry Fjord.
Foto: Christoph Ruhsam
Gröndlandhund und gleichzeitig Wolf.
Foto: Christoph Ruhsam

Diese "Eskimos" sind für die Inuitjäger offensichtlich mit Speeren und Bogen unterwegs, mit einem entsprechend kleinen Aktionsradius – also Ureskimos, Rohfleischesser und keine "Inuit". Während der Entdeckungsfahrten im 19. Jahrhundert wurden von verschiedenen Expeditionen kleine Eskimogruppen an den Ufern der Fjorde gesichtet, aber Kontakt konnte keiner aufgenommen werden und galten später als Ausgestorben. Oder doch nicht?

Die grönländische Ostküste ist tausende Kilometer lang, gebirgig, verzweigt, unzugänglich und nur in zwei Siedlungsgebieten von Grönländern bewohnt. Haben es dort Menschen geschafft, sich von der Zivilisation zu verstecken, um den Kontakt mit anderen Menschen zu meiden? Diese Erzählungen vertiefen unser Erleben von Liverpool Land. Gebannt nähern wir uns einem Feuer mitten am Eis des Hurry Fjordes und werden wieder in die Gegenwärtigkeit "der entferntesten Siedlung der Welt" geholt: "What’s that?" – "Don’t know" gibt Ooqe zurück.

"What's that? Don't know."
Foto: Christoph Ruhsam
Fame Öer mit Blick auf Liverpool Land.
Foto: Christoph Ruhsam
Dynamik in der Weite des froststarren Hurry Fjords.
Foto: Christoph Ruhsam

Gibt es also doch noch Unbekanntes, Unerforschtes auf dieser Welt? Wir halten den Atem an, folgen den aufsteigenden Rauchfahnen in die klare Luft der Arktis und hören nur noch das Atmen der winterlichen Arktis. (Christoph Ruhsam, 12.5.2017)