Besuch vom Direktor, aber kein Grund zur Panik: Christian Schacherreiter war auch als Leiter des Georg-von-Peuerbach-Gymnasiums in Linz öfters bei den Schülerinnen und Schülern in der Klasse.

Foto: Hermann Wakolbinger

STANDARD: Sie waren im Auftrag der oberösterreichischen Landesregierung federführender Koordinator des "Wertekompasses für Schulen". Warum brauchen die Schulen den überhaupt?

Schacherreiter: Natürlich war der Anlass, über so etwas nachzudenken, die steigende Migration und Schwierigkeiten, die dadurch entstanden sind. Unabhängig davon waren wir aber der Meinung, dass es auch für uns sozusagen Alteingesessene nicht schlecht ist, uns wieder einmal Gedanken über die Wertebasis der Gesellschaft zu machen. Man sagt das so leicht und scheinbar selbstverständlich: "unsere Werte", aber was meinen wir damit konkret? Ich glaube nicht, dass die Antworten darauf so klar sind.

STANDARD: In welcher Form hat das Thema Werte in der Schule denn eine andere Bedeutung oder Relevanz bekommen im Lauf der Jahre, wenn Sie sagen, es geht eben nicht nur um die Folgen von Migration?

Schacherreiter: Ich würde nicht sagen, dass diese Wertehaltung in früheren Jahrzehnten automatisch da war, aber die Sensibilität in diesen Fragen ist gestiegen, und ich glaube, mit Recht. Eine hochentwickelte Gesellschaft sollte nicht nur in technischer und ökonomischer Hinsicht hochentwickelt sein, sondern auch kulturell und ethisch. Unsere lange, teilweise recht unselige Diskussion über die Einführung eines verpflichtenden Ethikunterrichts spiegelt die Schwierigkeiten dieser Debatte ja auch wider.

STANDARD: Sie sagten, das Thema "Werte" sei "in der Luft gelegen"? Inwiefern?

Schacherreiter: Manche Schwierigkeiten entstehen schlicht aus Unkenntnis. Nicht alles Gelebte ist in Gesetzen festgelegt, es gibt auch Gebräuche und Gepflogenheiten, die man eben kennen muss, um nicht Anstoß zu erregen. Das ist aber oft nur eine Frage der Information. Viele Zuwanderer wollen das ja wissen, damit sie sich integrieren können. Schwierig wird es dort, ich nehme ein markantes Beispiel, wo Zuwanderer nicht akzeptieren, dass Frauen in unserer Gesellschaft gleichberechtigt sind. Das führt zu Problemen, da es bei uns viele Lehrerinnen gibt. Ich hatte auch an meiner Schule einen Fall, wo weiblichen Lehrkräften mit großer Respektlosigkeit begegnet wurde. Das war letztlich pädagogisch nicht hinzukriegen, sondern endete mit einem Schulausschluss.

STANDARD: Haben Sie den Schüler und seine Eltern zu sich zitiert und mit ihnen über Werte gesprochen?

Schacherreiter: Ja, nicht nur einmal. Das Schwierige war, dass zwar der Schüler und auch der Vater, wenn sie bei mir gesessen sind, sehr höflich waren und sich einsichtig zeigten, aber kaum war der Sohn in der Klasse zurück, ging das wieder los. Sie signalisierten der männlichen Autorität gegenüber, dass sie das zur Kenntnis nehmen, aber in der Praxis hat es nicht funktioniert.

STANDARD: Was hat der Bub getan?

Schacherreiter: Das ging von verbalen Entgleisungen bis in einem Fall so weit, dass eine Lehrerin mit einem Stift beworfen wurde. Dazu die Androhung, der Vater werde kommen und gewalttätig werden gegen diese Lehrerin. Der Vater hat zwar gesagt, er wäre eh nicht gewalttätig geworden, aber das war nur ein schwacher Trost.

STANDARD: Welche Werte haben Sie und Ihre drei Mitautoren den Schülern nun verordnet?

Schacherreiter: Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass in jeder Gesellschaft ein historisch entstandenes Menschenbild dominant ist, von dem relativ viel abhängig ist. Bei uns ist das ein Menschenbild, das man humanistisch nennen kann und das seine Wurzeln zum Teil in der Antike, zum Teil im Christentum, zum Teil in der Aufklärung hat. Auf den Punkt gebracht: Wir betrachten den Menschen als vernunftbegabtes Wesen, das Verantwortung übernehmen und Mitmenschlichkeit entwickeln kann. Darauf beruht unser Konzept des mündigen Bürgers und der mündigen Bürgerin, und daran hängen letztlich auch Demokratie, persönliche Freiheit und Rechtsstaat.

STANDARD: Thomas Stelzer (ÖVP), damals Bildungslandesrat, mittlerweile Landeshauptmann, hat gesagt, der Wertekodex soll auch "das christliche Fundament" stärken. Soll die Schule in Oberösterreich "christliche Werte" vermitteln – in einer zunehmend multikulturellen, multikonfessionellen bzw. konfessionsfreien Gesellschaft?

Schacherreiter: Das muss man sehr genau konkretisieren, um da nicht missverstanden zu werden. Bei uns ist der Mensch in Religionsdingen frei, das ist ein Verfassungsgrundsatz. Jeder darf eine anerkannte Konfession wählen, darf auch einer Sekte angehören, wenn die nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommt, oder eben Atheist sein. Niemand darf aufgrund seiner Religionszugehörigkeit diskriminiert oder bevorzugt werden. Die andere Seite ist, und das meinte Stelzer, dass unsere Gesellschaft, unsere Kultur und Kunst vom Christentum und insbesondere vom Katholizismus geprägt wurde. Wir regen im Wertekompass an, sich mit der Kulturgeschichte Österreichs zu beschäftigen, um Land und Leute besser zu verstehen. Da ist die Auseinandersetzung mit dem Christentum schon sehr empfehlenswert, aber bitte ja nicht im Sinne einer Missionierung.

STANDARD: Der Titel des Vortrags, den Sie in Wien halten werden, lautet: "Scharia geht gar nicht! Oder: Vom Wagnis, sich festzulegen. Überlegungen zum Wertekompass an oberösterreichischen Schulen." Was meinen Sie damit? Dass es in Oberösterreich Schüler gibt, die die Scharia gut finden, die Sie vom Gegenteil überzeugen wollen?

Schacherreiter: Ja, die gibt es. Es gibt Menschen bei uns, die sich aufgrund ihres Glaubens schwertun, zu akzeptieren, dass es einen Rechtsstaat gibt, der sich nicht in letzter Instanz auf göttliches Recht beruft, und dass es – Stichwort Parallelgesellschaft – auch nicht geht, dass ein Imam einen Richtspruch fällt, der mehr gilt als das staatliche Recht. Ich glaube, dass in gewissen Fragen eine eindeutige Festlegung notwendig ist und Aufweichungen nicht tolerierbar sind.

STANDARD: Warum ist es ein "Wagnis, sich festzulegen"? Ist das auch ein Plädoyer gegen das, was unter "Kulturrelativismus" firmiert?

Schacherreiter: Ja, durchaus. Toleranz ist etwas sehr Wichtiges und Gutes. In den Begleitmaterialien zum Wertekompass gibt es ein Kapitel zur Geschichte der Glaubenskämpfe und zur Entstehung religiöser Toleranz in Europa, weil ich den Schülerinnen und Schülern zeigen möchte, dass wir einen langen, sehr leidvollen und mit vielen Toten gezeichneten Weg gegangen sind, bis wir gelernt haben, uns in unseren unterschiedlichen Konfessionen und religiösen Vorstellungen zu tolerieren. Andererseits glaube ich: Wir können nicht alles und jedes tolerieren. Es muss Grenzen geben, wobei für mich da besonders zwei Themen wesentlich sind: die Scharia und die Frauenfrage. Da dürfen wir keinen Millimeter zurückgehen oder Zugeständnisse machen.

STANDARD: Wie sollen die Schulen in Oberösterreich mit Ihrem Wertekompass konkret arbeiten?

Schacherreiter: Es gibt keine Verpflichtung dazu. Das ist kein Gesetz, auch nicht Teil des Lehrplans, es ist eine Empfehlung. Wir haben die Schulen informiert und mit Unterrichtsmaterialien versorgt, die noch erweitert werden. Es gibt natürlich Schultypen, bei denen dieses Thema durch den Fächerkanon ohnedies gut abgedeckt ist. In den AHS etwa, wo es viel Geschichtsunterricht gibt, Philosophie oder auch Biologie und Geografie, wo die Verantwortung gegenüber der Natur Thema ist. Aber in sehr berufsspezifisch orientierten Schulen, wo es kaum Fächer für solche Inhalte gibt, wäre es wünschenswert, dass man auf diese Themen in anderer Weise ein Augenmerk legt.

STANDARD: Mit dem Thema Werte betreten Lehrerinnen und Lehrer ja auch heikles Terrain. Beispiel: Der Vortrag über Extremismus an einer Linzer Schule, der nach einer Intervention eines FPÖ-Politikers, dessen Sohn die FPÖ verunglimpft sah, abgebrochen wurde. Wie hätten Sie als Direktor reagiert?

Schacherreiter: Ich finde die Vorgangsweise unerhört. Ich kenne den Nationalratsabgeordneten Roman Haider, weil genau dieser Schüler an meiner Schule in der Unterstufe war, und ich möchte dazu eine aufschlussreiche Anekdote erzählen: Herr Haider hat nämlich versucht, eine Exkursion der Klasse ins Parlament direkt in einen Empfang beim damaligen Dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf zu kanalisieren, und ich habe das untersagt, weil ich es als politische Propaganda betrachtet habe. Martin Graf war ja damals gerade sehr umstritten. Herr Haider war mir sehr böse, dass ich das gemacht habe. Da hätte er mit politischer Einflussnahme offensichtlich keine Probleme gehabt. Diese Denunziationsplattform, mit der die FP Oberösterreich jetzt reagiert hat, ist indiskutabel. Unabhängig davon hat aber jede Partei, jeder Verein das Recht, wenn sie sich verunglimpft fühlen durch Lehrer, auf dem üblichen Instanzenweg zu intervenieren und vor allem das konstruktive Gespräch zu suchen.

STANDARD: Ist der Wertekompass nicht auch ein Argument für verpflichtende politische Bildung oder Ethik als institutionalisierte Plattform in der Schule, wo solche Themen behandelt werden können?

Schacherreiter: Es wäre wünschenswert, dass die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Leider beschränkt sich die Bildungspolitik meist auf Sonntagsreden, was diesen Bereich betrifft. Geld und Ressourcen werden in andere Dinge gesteckt, man muss sich nur anschauen, was wir in den letzten Jahren für die Illusion der Vermessbarkeit von Bildung ausgegeben haben, statt etwa die Grundlage für vernünftige Werteerziehung zu schaffen. Das ist ein Teil des Problems, dass die Bildungspolitik falsche Prioritäten setzt. Interessanterweise herrscht aber da ein relativ großer Konsens unter den Parteien.
(Lisa Nimmervoll, 14.5.2017)