Julien Gracq, ein Lehrer, war zu Lebzeiten gegenüber dem französischen Literaturbetrieb peinlich auf Abstand bedacht.


Foto: Literaturverlag Dorschl

Wien – Städte wie das auf einem Hochplateau gelegene Alt-Brega dämmern unübersehbar ihrem Untergang entgegen. Unmöglich zu sagen, in was für einem Abschnitt der Weltgeschichte Julien Gracqs Roman Das Abendreich überhaupt angesiedelt ist.

Die Bewohner dieses gesegneten Imperiums bleiben blass. Man könnte meinen, sie alle entstammen einer Feudalgesellschaft. Die Rechtsprechung beschränkt sich in dieser mysteriösen Spätkultur auf die Klärung von Besitzverhältnissen. Im Dämmer mittelalterlicher Schreibstuben scheinen Beamte wie der Ich-Erzähler vornehmlich damit beschäftigt, ein gefährdetes Gleichgewicht sicherzustellen. "Das Königreich", schreibt Gracq, der notorische Einzelgänger der französischen Literatur, "brachte sich auf dem Papier in der Gestalt seiner Identität mit sich selbst zur Deckung."

Doch der Blick fällt immer sorgenvoller aus den sorgfältig getünchten Stadthäusern hinaus in die Wildnis. Viele Hundert Kilometer entfernt überwinden grausame Barbarenstämme die Passstraßen. Sie verheeren die Provinzen an der Ostgrenze und scheinen gutem Zureden gegenüber unempfänglich. Emissäre, die das Abendreich "müden Herzens" entsendet, werden von den Steppenreitern augenblicklich gepfählt.

Die Sitten der Barbaren

Der Ältestenrat in diesem nordländischen Byzanz verfällt in angeregte Diskussionen, Gracq gibt sie aus verfremdeter Perspektive wieder. Beschwichtigende Stimmen werden laut. Die skandalöse "Ungeschliffenheit" der Barbaren wird als klitzekleine Chance für eine Annäherung verbucht.

Man meint, die Bestürzung des Erzählers mit Händen greifen zu können. Die nebulöse Bedrohung des Reiches, in dem alle Uhren auf fünf vor zwölf gestellt sind, lässt sich politisch kaum fassen. Gracq (1910-2007) gliedert sich mit seinem in den 1950ern entstandenen Abendreich ein in die Reihe poetischer Zivilisationskritiker.

Sein unvollendetes Buch lässt sich einer Schlüsselerzählung Ernst Jüngers an die Seite stellen, Auf den Marmorklippen (1939). Auch hier harrt ein wacher Kopf in einer Enklave aus, um sich und seinesgleichen vor den Nachstellungen durch "Waldgelichter" (die Nazis) abzusichern. Gracq hat seine Begeisterung für Jüngers unzeitgemäße Prosa in den 1940ern artikuliert. Die Vermutung, Das Abendreich sei auch deswegen Fragment geblieben, weil seinem französischen Autor die Nähe zur Jünger'schen Motivik lästig geworden ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden.

Gracq lässt seinen Erzähler einen Ausbruch ins (vorerst) Freie wagen. Man meint, einen Fantasy-Roman aus der Tolkien-Schule zu lesen. Man stolpert wie im Traum durch komplizierte Stadt- und Festungsbauten, wo "Kurtinen", also Bastionswälle, die Söller der abendländischen Siedlungen miteinander verbinden. Es scheint, als ob sich die atemlose Beschreibung immer mehr verfeinerter Wahrnehmungsinhalte zwischen den Erzähler und das "Reich" schöbe.

Gracqs Text bildet einen komplizierten Organismus. Die Sprache umfängt die Gegenstände wie Äther. Der nimmt als Medium die zartesten Reize auf und leitet sie an den Empfänger weiter. Eine Flut visueller Eindrücke dominiert das Geschehen. Dieses kommt seinerseits zum Erliegen; es weicht einem Delirium von Atmosphären. Stimmungen nehmen den wirklichen Untergang vorweg und rufen den Eindruck morbider Ewigkeit hervor.

Wir begegnen dem Erzähler folgerichtig auf der Mauerkrone einer belagerten Grenzstadt wieder, die von allen Seiten von Barbaren eingekesselt ist. Die besondere Passion des mongolenähnlichen Stammes liegt im Köpfen gefangener Widersacher.

Über die Obszönität des Vorgangs hinaus wird das Dilemma dieses atemberaubenden Romantextes deutlich. Das moderne Bewusstsein nimmt vor den Bedrohungen der Gegenwart Reißaus. Es schlüpft in ein Mittelalter, das zugleich Anfang und Ende der geschichtlichen Zeit ist. In ihm kehren die Schrecken der Neuzeit wieder; sie tragen nur ein verblasstes Gewand. Das Abendreich erreicht stellenweise die Höhe von J. M. Coetzees Warten auf die Barbaren: eine andere grausame Grenzgeschichte am Rande der Ewigkeit. (Ronald Pohl, 15.5.2017)