Der exzentrische Architekt und Denker François Roche will den Beruf des klassischen Professors "deporträtieren". Dazu gehört auch, dass er sich selbst nicht fotografieren lässt.

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Manchmal lässt sich Roche sogar von einem Avatar vertreten.

Foto: Francois Roche

STANDARD: Sie haben Ihren Vertrag an der Akademie der bildenden Künste Wien als Avatar unterschrieben. Wie genau kann man sich das vorstellen?

Roche: Ich habe meinen Avatar S/He eingeladen, sich als digitaler Charakter um meine Agenden zu kümmern und für mich einzuspringen. S/He hat mich autorisiert, ihm den Auftrag zu geben, den Vertrag digital für mich zu unterschreiben und als PDF nach Wien zu schicken.

STANDARD: Wie haben Sie signiert?

Roche: François Roche im Auftrag von S/He.

STANDARD: Und warum?

Roche: Ich wollte damit ein Exempel statuieren: Die Aktion, dass ich meinen Avatar S/He den Vertrag unterzeichnen ließ, ist nichts anderes als der Versuch, den klassischen Architekturprofessor zu deporträtieren und dekonstruieren – weg von der autoritären Herrlichkeit des Lehrenden, des Zeremonienmeisters, hin zu einem Modell, das sich als Medium für Inhalte zur Verfügung stellt. Um mit Gilles Deleuze und Michel Foucault zu sprechen: Ich wollte dieses kulturpropagandistische Bild dekonstruieren und die Expertise an meinen Avatar delegieren.

STANDARD: Und warum ist Ihr Avatar eine Frau?

Roche: Ist er das? S/He ist ein Hermaphrodit, der beweist, dass die Welt nicht nur aus weißen, kaukasischen, heterosexuellen Männern besteht. Sie ist vielfältiger als das. Sie ist das Gegenmittel zu allen männlichen Allmachtsfantasien.

STANDARD: Zu Beginn des Interviews haben Sie verweigert, sich vom Fotografen klassisch porträtieren zu lassen. Ein digitaler Avatar, eine Fotoverweigerung, ein Gesprächsbeginn über Deleuze und Foucault ... Ist das nicht ein bisschen viel Inszenierung für einen Gastprofessor, der eigentlich von Dekonstruktion spricht?

Roche: Überhaupt nicht. Ich präsentiere mich nur als trauriges Mädchen mit Asperger-Syndrom, das den Studierenden zeigen will, dass die gebaute Welt mehr ist als nur Schwarz und Weiß, als nur Mann und Frau. Ich lebe in Bangkok, und im Thailändischen gibt es 17 verschiedene Geschlechterbezeichnungen. Siebzehn! Diese Vielfalt soll uns für die Erschaffung der künftigen, posthumanen Welt als Vorbild dienen.

STANDARD: Was kommt nach dem Menschen?

Roche: Menschen, Transmenschen, Avatare, Maschinen.

STANDARD: Und die brauchen Architektur?

Roche: Es geht um das Nebeneinander, um die Koexistenz von Mensch und Maschine. Wissen Sie, wir leben gerade in einem "Age of the Anger", in einer Zeit des Zorns, in der alle bisherigen Werte auf den Kopf gestellt scheinen. Ich sage nur: Erdogan, Brexit und Trump. Die Aufgabe von uns Architekten und Stadtplanern ist es, eine Welt zu erdenken, die sich nicht über Ausschluss, sondern über Integrierung definiert. Wir müssen die Diversität der Gegenwart und Zukunft zusammenfassen. Leider ist dieses Umdenken noch nicht in den Architekturschulen angekommen. Immer noch wird Architektur als Bauen für die Elite gesehen. Das ist eine mentale Einbunkerung. Als Gastprofessor habe ich das Privileg, dagegen anzukämpfen. Ich habe das Privileg, Pandoras Box zu öffnen und diese Demarkationslinie zu überschreiben.

STANDARD: Gibt es ein Beispiel für so eine angewandte, integrierende Architektur?

Roche: In Bangkok habe ich letztes Jahr ein Projekt für einen obdachlosen Menschen gemacht. Wir haben den Mann, der am Tourette-Syndrom litt und von Kindern daher immer wieder belästigt wurde, in seinen Bewegungen einen ganzen Tag lang beobachtet und gescannt. Daraufhin haben wir für ihn und seine Zuckungen eine Art Minimalhülle gebaut – eine rund zwei Quadratmeter große Betonschale aus dem 3D-Drucker, eine Art Schneckenhaus, das ihn vom Sarkasmus der Kinder beschützen sollte.

STANDARD: Eine Notbehausung für einen Obdachlosen aus dem 3D-Drucker ... das klingt fast zynisch.

Roche: Warum sollten neue Technologien nur den Wohlhabenden und Herrschenden vorbehalten sein? Überhaupt nicht! Es geht um Demokratisierung und Egalisierung.

STANDARD: Das müssen Sie bitte erklären.

Roche: Wir leben heute im Zeitalter des Anthropozän, in der Zeit des Postmenschen, in der Maschinen in der Lage sind, uns zu entlasten. In den letzten zehn Jahren wurden die neuen Technologien in einer missbräuchlichen Machtkonzentration eingesetzt – vom Finanzkapitalismus bis hin zu sinnlosem Design für Mode- und Merchandising-Gimmicks. Wir haben nun erstmals die Möglichkeit, die Maschinen für eine große Gruppe von Menschen sinnvoll einzusetzen. Das Einzige, was Sie brauchen, ist Wasser, Sand und Zement. Also wenn das nicht demokratisch ist!

STANDARD: Ein Roboter kostet Geld. Wie soll so ein Modell finanziert werden?

Roche: In unserem Büro arbeiten wir fast ausschließlich mit Digitalisierung und Robotik. Meine Vision ist, dass wir auf Bauroboter eines Tages so zurückgreifen werden, wie wir das heute schon beim Carsharing tun. Der Roboter als Dienstleistung auf Zeit – und nicht als materielles Eigentum. Damit gehört diese Technologie allen und niemandem zugleich.

STANDARD: Sie verwenden in Ihren digital geplanten, maschinell gebauten Projekten Baumaterialien wie Erde, Staub und Abfall. Geht es um Ressourcenschonung oder um ein demokratisches Statement?

Roche: Beides. Die Vorstellung von Digitalisierung und Robotisierung erzeugt in vielen Menschen Angst. Die einen denken an Frankenstein und Golem, die anderen an weiße, unberührte, komplett hygienische Hightech-Räume und hochtechnoide Kathedralen. Das ist ein absolutes Trugbild. Roboter sind dreckig und unappetitlich. Sie sind voller Schmieröl und Betonrückstände. Sie tropfen, schwitzen und bluten, sie stinken nach Pisse und Scheiße. Roboter sind einfach nur menschlich. Und daher bauen wir nicht nur mit perfekten Baustoffen, sondern mit den Abfallstoffen, die unsere Gesellschaft Tag für Tag produziert.

STANDARD: In den Slums von Bangkok haben Sie eine kleine Bibliothek aus menschlichem Kot und Urin gedruckt. Warum?

Roche: (schüttet seinen Kaffee über den Tisch aus) Weil wir nicht in einer sauberen Teletubby-Welt leben! Weil die Welt unperfekt und verdammt noch mal dreckig ist. Architektur ist keine Angelegenheit für die Elite. Architektur gehört uns allen. Und daher müssen wir mit dem arbeiten, was da ist. Und manchmal ist das nicht mehr als Schlamm aus Pisse und Scheiße – wie im Falle der Slums von Bangkok, wo es nicht einmal eine funktionierende Kanalisation gibt. Bauen, mit dem was da ist. Das ist Bauen! Das war Bauen schon immer! Wir sind ja schließlich keine deutschen Autobauer.

STANDARD: Zurück zur Scheiße. Wie haben die Leute auf dieses Projekt reagiert?

Roche: Zunächst einmal: Zu Beginn waren sie so verstört, wie ich es war, denn das Projekt hat ehrlich gesagt ziemlich gestunken. Aber dann haben sie es verstanden – und zwar als Anregung, um über unsere künstlich erbaute Welt nachzudenken. Denn Fakt ist: Menschen verhungern und verrecken am Straßenrand – und wir kümmern uns um irgendein Schickimicki, bauen Kunst- und Kulturmuseen für die Elite und machen neokolonialistische Partizipationsprojekte ... Ich habe diese arrogante Architektur der Aristokratie satt.

STANDARD: Schockieren Sie gerne?

Roche: Ganz und gar nicht. Ich bin nur pathologisch traurig, und daher rege ich gerne zum Denken an. Ich will, dass meine Studenten die Grenzen in ihren Köpfen durchbrechen und das Unmögliche wagen. Wer soll jemals den Konformismus aufbrechen – wenn nicht wir Baumeister von morgen? Das anzuregen, das wachzurütteln ist meine Aufgabe als Gastprofessor.

STANDARD: Am kommenden Montag halten Sie an der Akademie einen Vortrag. Worüber werden Sie sprechen?

Roche: Genau darüber! Ich will in meinem Vortrag über das Phänomen der sozialen und urbanen Krise sprechen und schauen, welche Werkzeuge es gibt, um da wieder rauszukommen.

STANDARD: Haben Sie eine Idee?

Roche: Liebe, Hass und Maschinen.

(Wojciech Czaja, 19.5.2017)