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Wenn Karl Ove Knausgård nach 3600 Seiten den Schlusspunkt setzt, stellt sich die Frage, warum er das jetzt macht, warum er nicht weiterschreibt.

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Knausgards zweite Frau, die Schriftstellerin Linda Boström: "Was sollen wir jetzt tun, Karl Ove?"

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Karl Ove Knausgård, "Kämpfen". Roman Das autobiografische Projekt, Band 6. € 29,90 / 1280 S., Luchterhand, 2017

Cover: Luchterhand

Ludwig Wittgenstein wünschte sich in einer Manuskripteintragung vom 22. August 1930, zum Voyeur zu werden:

Es könnte nichts merkwürdiger sein, als einen Menschen bei irgend einer ganz einfach alltäglichen Tätigkeit, wenn er sich unbeobachtet glaubt, zu sehen. Denken wir uns ein Theater, der Vorhang ginge auf, und wir sähen einen Menschen allein in seinem Zimmer auf und ab gehen, sich eine Zigarette anzünden, sich niedersetzen, u.s.f., so, daß wir plötzlich von außen einen Menschen sehen, wie man sich sonst nie sehen kann; wenn wir quasi ein Kapitel einer Biographie mit eigenen Augen sehen – das müßte unheimlich und wunderbar zugleich sein. Wunderbarer als irgend etwas, was ein Dichter auf der Bühne spielen oder sprechen lassen könnte, wir würden das Leben selbst sehen.

Das 21. Jahrhundert verwirklichte Wittgensteins Überlegungen radikaler, als dieser sich das je hätte vorstellen können. Kein Fernsehsender kommt ohne selbstproduzierte Realityshows aus, in denen sich Menschen bei der Verrichtung ihres Alltags, versteckt hinter einer dünnen Schicht Wettbewerb, filmen lassen und dafür ihre "fifteen minutes of fame" abholen. Diese Form der Wirklichkeitsbeobachtung, bei der man durch (kostenpflichtiges) Voting den Verlauf der Show mitbestimmen kann, ist so populär, dass im Jahr 2008 mehr Stimmen für American Idol abgegeben wurden als für Barack Obama bei der Präsidentschaftswahl.

Autor, Erzähler, Protagonist

Der Realität der uns täglich überschwemmenden Katastrophenmeldungen halten wir also eine Pseudorealität entgegen, eine gezähmte, kontrollierte Version des Alltags, in der man ein demokratisches Mitbestimmungsrecht hat, das 50 Cent pro Anruf kostet. Diese Faszination des Alltäglichen greift in den letzten Jahren auch auf das Feld der Kunst über, wo überzeugende kreative Energien in den nichtfiktionalen Bereich zu fließen scheinen. Und tatsächlich boomt am Buchmarkt länder- und sprachübergreifend das Spiel mit der Autofiktion. Der Begriff "Autofiktion" ist unscharf definiert und wird in der Regel als Hybrid zwischen Roman und Autobiografie gesehen: Autor, Erzähler und Protagonist teilen einen Namen, die Texte sind aber als Roman gekennzeichnet.

Anders als die Autobiografie will die Autofiktion gar nicht auf die großen Momente eines wirkungsmächtigen Lebens zurückblicken, sondern das gegenwärtige Alltagsleben in eine literarische Form bringen.

Es ist also vor allem die Form, die ein fiktionales Element einbringt, während der Inhalt sich nah an den Fakten orientiert, die allerdings von außen nicht verifiziert werden können, denn wie soll man schon wissen, ob der Autor sich tatsächlich mit einem Freund in der Bar ein Bier bestellte oder die Autorin sich tatsächlich mit ihrem Partner gestritten hat.

Bier trinken und streiten könnten wir selbst auch, selbst zum Denkmal werden eher selten. Deshalb ist folgende Überlegung Jean Pauls eine ganz treffende Definition autofiktionaler Literatur: "Mein Leben kann nur ich beschreiben, weil ich das Innere gebe; das von Göthe hätte ein Nebenherläufer beobachten und also mittheilen können." Goethe schrieb sein Leben auf, Jean Paul eines, in dem alle Leben sich wiederfinden. "Das Ich gilt, aber nicht mein Ich", fasst er zusammen.

Navid Kermani beschäftigt sich in seinem 2011 erschienenen großen autofiktionalen Roman Dein Name intensiv mit diesen Überlegungen. Im Nachfolgeroman Große Liebe (2014) erzählt er die Anekdote eines Königs, der spöttisch einem Bettler zuruft: "Du würdest wohl gern ich sein", worauf dieser antwortete: "Nein, ich möchte nicht ich sein." Das ist gut. Aber auch wenn er nicht er selbst sein will, der Bettler ist selbstverständlich ein Ich – und damit auch ein Du.

"Du" ist ein Wort, das in Hitlers Mein Kampf nicht vorkommt, beobachtet Karl Ove Knausgård im sechsten und letzten Band seiner auf Norwegisch Min kamp betitelten autofiktionalen Romanserie. Weil wir aber wissen, dass jedes Du auch ein Ich ist, haben wir Empathie und können uns in andere Leben hineinversetzen. Deshalb sprechen uns autofiktionale Projekte wie Knausgårds Mein Kampf oder Kermanis Dein Name so direkt an: Wie die Autoren müssen auch wir unseren Kampf ausfechten, um am Ende unseren Namen in das große Totenbuch des Lebens eintragen zu können.

Das gesamte autobiografische Projekt Knausgårds umfasst 3600 Seiten, die in Norwegen zwischen 2009 und 2011 erschienen sind und zu heftigen Diskussionen über die Grenzen des Privaten Anlass gaben und zu einem der größten Verkaufserfolge des norwegischen Buchhandels überhaupt wurden. Die ersten fünf Bände sind bereits auch auf Deutsch und Englisch erschienen, und vor allem im englischsprachigen Raum wurde Knausgård zu einem "global rockstar" ausgerufen (The Economist) und als "Norway's Proust" (The Guardian) gefeiert.

Wie kein Held der Literaturgeschichte zuvor geht Knausgård alleine auf und ab, zündet sich eine Zigarette an und setzt sich nieder, genauso wie im imaginären Theater Wittgensteins vorweggenommen. Hier kann man tatsächlich den Alltag in seiner alltäglichsten Form sehen:

Am nächsten Morgen stand ich um halb fünf auf, schaltete den piepsenden Wecker aus, griff das Bündel mit meiner Kleidung und zog mich auf dem Flur vor dem Schlafzimmer an, um Linda nicht zu wecken, holte beide Zeitungen, die vor der Haustür auf dem Boden lagen, setzte Kaffee auf, las das Feuilleton und den Sportteil und aß einen Apfel, während ich darauf wartete, dass der Kaffee durchlief. Als es soweit war, trank ich eine Tasse und rauchte eine Zigarette auf dem Balkon. Der Himmel war diesig, die graue Dunkelheit der Dämmerung hielt sich noch zwischen den Gebäuden unter mir, es lag etwas Feuchtes in der Luft, es war Mitte August. bald würde es Herbst werden. Ich zündete mir eine weitere Zigarette an ...

Knausgårds Frau liegt noch im Bett, während er um halb fünf Uhr früh eine Stunde schreibt, bevor die Kinder munter werden, die er dann in den Kindergarten bringen muss, da sich seine Frau, die an einer bipolaren Störung leidet, zu schwach dafür fühlt. Es scheint nur die Krankheit der Frau zu sein, die eine Trennung verhindert. Er sieht das aber auch als Chance und ist bereit, für den Fortbestand der Familie zu kämpfen, indem er auf für ihn so wichtige Zeit zu schreiben verzichtet.

Spricht man über das Private, ist die Liebe nicht fern, denn es gibt nichts Privateres. Die Liebe ist sogar ausschließlich persönlich, da jeder, der über die Liebe spricht, von seinen spezifischen und individuellen Erfahrungen ausgeht. Navid Kermani kontrastiert diese Überlegung mit der Frage nach dem Tod, deren Antworten in der Regel absolut erfahrungslos sind. Es ist noch keiner von uns gestorben, aber geliebt, geliebt haben wir schon alle. Liebe ist daher maximal empirisch. Will man die Liebe im Privaten belassen, ist es gefährlich, mit einem Schriftsteller verheiratet zu sein, und Tonje Aursland, Karl Ove Knausgårds Ex-Frau, scherzt nicht, wenn sie sagt, dass es absolute Voraussetzung für ihre nächste Beziehung war, dass ihr neuer Partner keine schriftstellerischen Ambitionen hatte.

Veröffentlichter Liebesalltag

So schwierig es für die Partnerin sein muss, plötzlich gemeinsame Geheimnisse oder intime Gedanken des Ehemanns veröffentlicht zu sehen, ist es für Tonje Aursland nicht das Verletzendste. Was sie noch schwieriger akzeptieren kann, als in den Kopf des Partners schauen zu müssen, ist vielmehr, dass dieser vorgibt, in den ihren blicken zu können. Ganz am Ende des fünften Bandes (deutsch: Träumen), nachdem Karl Ove Knausgård seine betrunkene Untreue gestanden hat, geht auch Tonje fremd. Sie begründet das mit ihrer Eifersucht, nicht auf eine Frau, sondern auf die Literatur. Nach dem Tod seines Vaters war es "eine so bleierne Zeit gewesen, in der es so wenig Freude gegeben hat. Und ich habe wirklich alles versucht. Und dann läuft es auf einmal beim Schreiben, und schon geht es dir wieder gut!"

Knausgård beschließt, einfach wegzufahren, ohne Schluss zu machen. Gemeinsam gehen sie zum Bahnhof. "Sie umarmte mich", schreibt Knausgård, "Sie weinte", und als der Zug "aus dem Bahnhof rollte, sah ich Tonje alleine den Bahnsteig hinunter und in die Stadt gehen". Für Tonje Aursland sind diese Szenen so privat, dass sie nie gedacht hätte, dass sie jemals öffentlich werden könnten. Nur drei Personen wussten bislang, dass sie untreu war, sie, ihr Mann und ihr Geliebter, und es war ihr peinlich, dass nun ihr Vater und sogar ihre 90-jährige Großmutter das erfahren mussten. Am schmerzhaftesten war aber die Erfahrung, dass Knausgårds Buchfassung durch die Verschriftung objektive Wirklichkeit geworden ist.

"Das ist Geschichtsschreibung", sagt sie in einer von ihr selbst gestalteten Radiodokumentation. Knausgård rechtfertigt sich, dass er ja nichts Schreckliches schreiben würde, doch Aursland zeigt auf, dass allein das Bild der einsam am Bahnsteig zurückgelassenen Ex-Frau sie in die Rolle des Opfers drängen würde, eine Rolle, die sie nicht anzunehmen bereit ist, da sie damals mindestens genauso erleichtert war wie er, dass diese Beziehung zu Ende war. Durch den Roman wird sie allerdings für immer die Ex aus Knausgårds Buch bleiben, ob sie das nun will oder nicht. Für sie ist Knausgård rücksichtslos, "aber mit fürchterlich schlechtem Gewissen". Wenn es hart auf hart kommt, würde er immer die Schriftstellerei wählen. Diese Aussage bestätigt Knausgård, wenn er im letzten Band schreibt, dass er, wenn sein Bruder von ihm verlangen würde, gewisse Stellen zu streichen, ohne Zweifel lieber den Bruder verlieren würde. Nur um sich gleich darauf zu fragen: "Warum? War ich verrückt?"

Der Tod des Autors

Karl Ove Knausgård beschreibt in dem am 22. Mai auf Deutsch unter dem Titel Kämpfen erscheinenden sechsten Teil seines autobiografischen Romans, wie er seiner zweiten Frau Linda Boström den zweiten Band von Min kamp (deutsch: Lieben) zu lesen gab. Er bereitete sie darauf vor, indem er sagte, dass schreckliche Dinge darin stehen würden, dass er es aber nicht böse gemeint hätte. Als sie das Manuskript fertig gelesen hatte, rief sie ihn an und fragte weinend: "Was sollen wir jetzt tun, Karl Ove?"

Es sind nicht die großen Fehlleistungen, nicht Untreue oder Lüge, die das Lesen des zu Papier gebrachten Ehealltags für die betroffenen Partnerinnen so schwer macht, es sind die kleinen Ausrutscher und Geheimnisse einer Ehe. Dass Knausgård beim Babyturnen Fantasien mit der hübschen Betreuerin hat, dass er der Meinung ist, den Haushalt praktisch im Alleingang zu bewältigen. Die große Untreue findet ohnehin eher in der Fiktion als in der Realität statt. "Wüsste er bereits, dass er einen Roman schreibt, würde er an dieser Stelle eine Affäre erfinden", schreibt der bereits erwähnte Navid Kermani in Dein Name über einen Besuch in seinem Büro, und tatsächlich findet in seinem Roman Kurzmitteilung (2007) eine Affäre im Büro des Protagonisten statt, in Dein Name dagegen nicht.

Knausgård wiederum berichtet in seinem ersten Roman Ute av verden (1998) von einer Affäre des Protagonisten, eines jungen Aushilfslehrers, mit einer 13-jährigen Schülerin, wogegen in Band vier (deutsch: Leben) von Min kamp nur kurz beschrieben ist, wie ihm als junger Aushilfslehrer einmal eine 13-jährige Schülerin gefallen hatte, er dann aber doch lieber keine Schritte gesetzt habe.

Knausgård versucht alles niederzuschreiben, an das er sich erinnert, und obwohl er, Jahrgang 1968, bei Veröffentlichung des sechsten Bandes erst 43 Jahre alt war, könnte dies potenziell ein Leben lang weitergehen. Wenn Knausgård also nach 3600 Seiten den Schlusspunkt setzt, stellt sich die Frage, warum er das jetzt macht, warum er nicht weiterschreibt? Eine Biografie endet normalerweise mit dem Tod, doch wo endet die Autobiografie eines verhältnismäßig jungen, höchstens mittelalten Mannes, der bei Beginn dieses Projektes gerade zwei mäßig erfolgreiche Romane veröffentlicht hatte? Knausgård erklärt den Originaltitel Min kamp im zweiten Band (deutsch: Lieben) kurz:

Es ging nicht darum, dass ich keine Lust hatte, den Fußboden zu putzen oder Windeln zu wechseln, sondern um etwas Fundamentaleres, dass ich in dem mir nahen Leben keinen Wert erblickte, mich stattdessen unablässig fortsehnte und dies schon immer getan hatte. Das Leben, das ich führte, war folglich nicht mein eigenes. Ich versuchte, es zu meinem zu machen, das war der Kampf, den ich ausfocht, denn das wollte ich doch, aber es gelang mir einfach nicht, alles, was ich tat, wurde von der Sehnsucht nach etwas anderem vollständig ausgehöhlt.

Dieses Streben nach etwas anderem ist das Streben nach Literatur. Sein Kampf ist also der Kampf dafür, sein Leben als liebender Familienvater und Ehemann annehmen zu können. Wenn er diesen Kampf gewinnt, ist sein Projekt abgeschlossen. Und genau das geschieht. Der 1280 Seiten starke sechste Band, in den Knausgård einen 400 Seiten langen Essay über Hitlers Autobiografie Mein Kampf einbaute, endet mit dem schönen Satz:

Danach werden wir den Zug zurück nach Malmö nehmen, uns ins Auto setzen und zu unserem Haus fahren, und auf dem ganzen Weg werde ich den Gedanken genießen, wirklich genießen, dass ich kein Schriftsteller mehr bin.

Was darauf folgt ist die Widmung, die nach diesem sechsbändigen Kampf eine der größten Liebeserklärungen der Weltliteratur darstellt, wenngleich Knausgård auch hier keine überraschenden Bilder oder Wendungen verwendet, sondern am Schluss nur die berüchtigten drei Worte. "Für Linda, Vanja, Heidi und John. Ich liebe euch". Mein Kampf ist also ein immenser Chandos-Brief, der Knausgårds literarische Ambitionen beendet. Die Autobiografie endet nicht mit dem Tod, sondern mit dem Tod des Autors. Dass dieser Autor naturgemäß nur eine Romanfigur ist, ein fiktiver Autor, sieht man daran, dass Knausgård durchaus munter weiterschreibt und seit Beendigung seines autobiografischen Projekts bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht hat.

Endlich Mensch sein

Das Schreckliche an Hitlers Autobiografie ist, dass sein Text Wahrheit geworden ist, schreibt Knausgård. Alles dort von ihm Fantasierte hat er verwirklicht. Knausgårds Kampf ist ein umgekehrter: Er möchte nicht sein Buch Wirklichkeit werden lassen, sondern die Wirklichkeit Literatur. Seine Autobiografie soll nicht den Weg vom Text in die Realität finden, um dort dann das Menschliche auszurotten, sondern soll auf Papier gebannt werden, um ihn endlich zum Menschen werden zu lassen. Er möchte Ehemann und Vater sein und nicht Schriftsteller, er möchte Erfüllung im Familienleben finden und nicht im Schreiben seiner Bücher. Also schreibt er sechs Bände darüber, wie schwer es für ihn ist, Familienmensch zu sein, wie hart es ist, sein Schreiben dem sogenannten wahren Leben unterordnen zu müssen, er schreibt so lange darüber, bis er sich ausgeschrieben hat, bis nichts mehr übrig ist von seinem Schriftstellerdasein und nur noch der Mensch Knausgård zurückbleibt, als welcher er ganz am Schluss mit reinem Gewissen "Ich liebe euch" zu seiner Familie sagen kann. (Stefan Kutzenberger, Album, 20.5.2017)