In zwei maßgeblichen deutschen Tageszeitungen wurde im Jahr 2016 eine Debatte geführt, die zwei gegensätzlich Pole der Interpretation des Islam und dessen vieler Facetten zur Sprache brachte. Der Schriftsteller Ilija Trojanow zeichnete in einem Essay in der "Frankfurter Allgemeinen" das Bild eines unterbeleuchteten Kapitels der islamischen Geistes- und Kulturgeschichte. Im sogenannten "Sufismus" und den "sufischen" Traditionen würde sich die "mystische" Seite des Islam zeigen, die es gegen den "Salafismus" zu stärken gäbe. Im Sufismus läge nämlich die wirkliche Dimension des Islam, der diesen wieder zu seinen angeblichen Wurzeln zurückführen würde. Und es wäre ein milder, sanfter Islam, der sich darin zeigen würde, die weite Strecken beispielsweise des Islam auf dem Balkan oder auch in Zentralasien geprägt hätte.

Dagegen wandte sich der islamwissenschaftlich ausgebildete Schriftsteller und Übersetzer Stefan Weidner in der "Süddeutschen Zeitung", der auf die eher problematischen Aspekte der Sufi-Tradition und ihrer "Orden" verwies. Diese seien nämlich im Laufe der Geschichte des Islam zum Teil sehr massive und durchaus problematische Machtfaktoren gewesen. Von einer nur friedlichen Seite des Islam könne keine Rede sein.

Mystiker sind radikale Fundamentalisten

Das Grundproblem dieser Debatte besteht darin, dass das Phänomen einer "Mystik" zu wenig ausgedeutet wird. Die grundsätzliche Frage, was denn "Mystik" nun sei, wird dabei überhaupt nicht gestellt. Und in der Tat handelt es sich um eine äußerst schwierige Frage, die noch dazu durch die gegenwärtige Prägung des Begriffs verfälscht wird.

Die Hochschätzung, die dieser Begriff erfährt, hat mit dem neuzeitlichen Zugang zum Phänomen Religion und dessen primäre Zuordnung zu einem Gefühls- und Erlebensbereich zu tun. "Mystik" wäre damit eine besonders hochstehende Form der Religion, weil sie maximal auf der Gefühlsebene angesiedelt sei. Daraus entstand dann im 20. Jahrhundert eine ganz eigentümliche Lesart der Religionsgeschichte, wo man in den sogenannten "mystischen" Strömungen, die man in allen Religionen zu finden meinte, den Kern beziehungsweise den Höhepunkt der Religion ausmachen würde.

Dabei übersieht man, dass man unter dieses Label eine sehr heterogene Sammlung unterschiedlicher Traditionen und Elemente vereinigt, die gar nicht viel gemeinsam haben. Dazu kommt, dass jeder, der einmal näher mit Mystikern – welchen Couleurs auch immer – zu tun hat und ihre Texte liest, eigentlich eines Besseren belehrt würde. Mystiker sind nämlich vielfach radikale Fundamentalisten im ureigensten Sinn des Wortes, die ohne Rücksicht auf sich und ihre Umgebung ihre Gottessuche verwirklichen. Sie verlangen dabei von sich selbst alles und setzen das auch als Maßstab für den Zugang. Und sie sind nicht verlegen, alles für die Durchsetzung dieser Ziele zu tun. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Mystiker oft auch politische Aktivisten waren, die für ihre zum Teil radikalen Ideen warben.

Christlicher Mystiker Bernhard von Clairvaux

Die christliche "mystische" Tradition bietet hier viele Beispiele. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Zisterziensermönch Bernhard von Clairvaux, der einerseits die christuszentrierte Liebesmystik des Mittelalters zu nie gekannten theologischen und literarischen Höhen führte. Andererseits – und dessen ungeachtet – war er einer der feurigsten Befürworter der Kreuzzugsidee, für die er maßgeblich mit seinen Predigten Begeisterung entfachte. Die Frage, ob man das eine als zeitgegeben und -gebunden ausmarkieren kann und das aktuell Genehme, weil "nette", als überzeitliche Wahrheit, ist wohl nicht so einfach zu beantworten, weil beide Bereiche nur schwer zu trennen sind.

Mystische Sufi-Traditionen

Auch die Geschichte des Islam kennt viele Beispiele von "mystischen" Sufi-Traditionen, die Machtpolitik betrieben. So waren beispielsweise die Safawiden, die die Einführung des schiitischen Islam in Iran ab dem 16. Jahrhundert initiierten und diesen dann von oben herab oktroyierten, ursprünglich Anhänger eines "mystischen" Sufi-Ordens.

Die heute bekannteste Sufi-Tradition, der vor allem für die Türkei und den Balkan bedeutende Bektashi-Orden mit seinen tanzenden Derwischen, war bei seiner Entstehung ganz eng mit der militärischen Elitetruppe des osmanischen Reiches, den Janitscharen verbunden beziehungsweise diese könnte sogar von Mystikern dieser Tradition gegründet worden sein. Ähnliche Beispiele ließen sich aus der Tradition des Naqshbandiyya-Ordens zitieren, der in einigen Gebieten Asiens ein maßgeblicher Faktor der Ausbreitung des Islam war und sich ganz eng mit den herrschenden Dynastien verband.

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Die tanzenden Derwische sind ein Symbol für den Sufismus, der islamischen Mystik.
Foto: AFP/BULENT KILIC

Mystik muss also keineswegs nur auf einen vermeintlichen inneren Kern von Religion bezogen sein, der weltabgewandt praktiziert wird. Mystik ist vielmehr Fundamentalismus reinsten Wassers und kann gegebenenfalls auch problematische Züge tragen, wo die Abgrenzung von anderen Religionen im Vordergrund steht.

Versöhnlicher Zugang zu anderen Religionen

Umgekehrt gibt es Hinweise darauf, dass die Sufi-Tradition sehr wohl um einen versöhnenden Zugang zu anderen Religionen bemüht war. Greifbar ist dies beispielsweise am indischen Subkontinent, wo Sufi-Orden bei der Etablierung des Islam ab dem 11. Jahrhundert und insbesondere im 16. Jahrhundert im Reich der Mogule einen bedeutenden Faktor darstellen.

Wenn man den Quellen trauen darf, war beispielsweise der bedeutende Mogulherrscher Akbar (zumeist "der Große" genannt, 1542-1605), unter dem Einfluss des Sufi-Lehrers Salim Chishti dazu übergegangen, eine Art Synthese zwischen Hindu-Religionen und Islam zu entwerfen. In einem eigenen Gebäude in der von Akbar gegründeten Hauptstadt Fatehpur Sikri, wurden regelrechte Religionsdialoge mit Vertretern unterschiedlicher religiöser Traditionen, beispielsweise Jains, Zoroastrier, aber auch Christen geführt. Hier erwies sich der Einfluss der Sufi-Traditionen als religionenversöhnend, was sicher auch der gelebten Erfahrung des multireligiösen Indien entspricht.

Einer seiner Nachfahren, der unglückliche Mogulprinz Dara Shukuh, ging dann sogar soweit, in den zentralen Überlieferungstexten der Hindu-Tradition, den sogenannten Upanishaden, eine Art Uroffenbarung erkennen zu wollen, die sogar dem Koran überlegen wäre. Damit bewegte er sich selbstredend völlig außerhalb des orthodoxen Kontextes und nicht zuletzt deshalb war es seinem Bruder Aurangzeb auch ein Leichtes, ihn im Nachfolgestreit um den Mogulthron auszumerzen. Er ließ ihn als Häretiker anklagen und hinrichten.

Toleranz und Fundamentalismus

Wenn man sich also mit der "Mystik" einer religiösen Tradition beschäftigt, dann muss man immer den Kontext berücksichtigen, um nicht in eine problematische Engführung zu kippen. Mystik kann durchaus ein Potential zur Religionsversöhnung haben. Doch kann auch radikaler Fundamentalismus gegebenenfalls ein mystisches Antlitz haben. (Franz Winter, 24.5.2017)

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