Michael Hanekes Film "Happy End", soeben in Cannes erstpräsentiert, verheißt entgegen seinem Titel wenig Glück, sondern versammelt vielmehr Wiedergängerfiguren aus früheren Filmen zu einem finalen Requiem. Unter anderem mit Jean-Louis Trintignant (2. v. li.) und Isabelle Huppert (3. v. li.).

Foto: Filmfestspiele Cannes

Eine Operation am offenen Herzen ist eine delikate Angelegenheit. Vieles kann dabei schiefgehen, selbst wenn der Chirurg als Experte gilt. Yorgos Lanthimos' The Killing of a Sacred Deer beginnt mit einer klinischen Einstellung auf die menschliche Pumpe, und er behält sie so lange im Blick, dass sie in der Wahrnehmung noch nachzuckt. Man fühlt sich an Luis Buñuels berühmten Schnitt durchs Auge erinnert; keine angenehmen Assoziationen in einer Pressevorführung frühmorgens.

Das Bild aus Lanthimos' Film, auf den wir noch zurückkommen werden, mag stellvertretend für eine Handvoll Filme in Cannes stehen, die sich an einer solchen Operation im gesellschaftspolitischen Sinn versuchen. Sie nehmen die Krise der liberalen Wertegemeinschaft ins Visier, die Risse im sozialen Gefüge.

Da wäre allen voran Michael Haneke zu nennen, der zweifache Palmengewinner, der nun mit Happy End einen Film vorlegt, in dem viele vertraute Topoi und formale Muster wiederkehren. Irritierenderweise aber als Pastiche, denn der Film wirkt wie das Fazit eines an pessimistischen Diagnosen reichen Werks: kein Happy End, sondern ein exakt konstruiertes, aber auch seltsam geläufiges Haneke-Kompendium, in dem Wiedergänger früherer Arbeiten sich zu einem finalen Requiem aufraffen.

Telerama

Das Prinzip der Rückschau wird etwa an der Figur des altersschwachen Patriarchen (Jean-Louis Trintignant) der Großbürgerfamilie ersichtlich, der darin seiner Enkelin (Fantine Herdun) anvertraut, dass er seiner Frau wie in Amour beim Sterben behilflich war. Das Mädchen selbst erinnert in ihrer Apathie an Bennys Video. In den ersten Einstellungen gewährt sie mit dem iPhone via Periscope Einblicke in ihre dysfunktionale Familie. Soziale Medien sind die einzige Sphäre, in der die Figuren ihre Innenwelt preisgeben. Der Generationenvertrag ist morsch: Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Opa und Enkelin – in mehreren Rochaden hält der Film fest, wie sie aneinander vorbeireden.

Sarkastisches Planspiel

Haneke dringt in diesen bürgerlichen Kosmos mit Szenen ein, die sich oft erst indirekt, mosaikähnlich zu einem Ganzen fügen. Und doch gewinnt man den Eindruck, dass die Zusammenhänge, sind sie dann sichtbar, wenig Geheimnisvolles enthalten. Die Detachiertheit dieses Clans, seine Unfähigkeit, die eigenen Unzulänglichkeiten zu reflektieren und auf Schäden anders als mit Abgeltungen zu reagieren, sind hier schon zur Pose geronnen. Happy End ist ein Planspiel, das im Kern fast schon sarkastisch wirkt.

Der Grieche Lanthimos, zuletzt mit The Lobster in Cannes, antwortet darauf mit einem so bestechenden wie verstörenden Film, dessen radikale Diagnose sich in einer Genrespielart versteckt. Auch hier steht eine wohlhabende bürgerliche Familie im Brennpunkt und damit das weitverbreitete Selbstverständnis, dass man gegen äußere Beschädigungen immun ist. Lanthimos und sein langjähriger Drehbuchautor Efthimis Filippou greifen auf die Figur des Eindringlings zurück, um ein Drama um Schuld und Verdrängung und -wie der Titel The Killing of a Sacred Deer schon nahelegt – auch um ein schwerwiegendes Opfer zu erzählen.

Black Black

Vater Steven (Colin Farrell), der Chirurg, trifft sich regelmäßig mit dem Jugendlichen Martin (Barry Keoghan). Er schenkt ihm eine Uhr, lädt ihn ein zum Familienessen. Die Anhänglichkeit des Jungen trägt zunehmend Züge von Stalking. Die Motive dafür bleiben erst unklar. Ein antikes Gleichnis ebnet den Weg: Wer von jemandem etwas nimmt, wie Agamemnon den geliebten Hirschen von Artemis, muss etwas Wertvolles zurückerstatten, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Lanthimos hat einen Thriller inszeniert, der sich großartig auf die Macht des Unerklärbaren versteht. Die beiden Kinder von Steven verlieren nicht nur jeden Appetit, sondern auch die Fähigkeit, sich auf den Beinen zu halten. Die Kamera platziert das Geschehen in einer merkwürdig aseptischen Welt. Sie zirkelt die Szenen aus der Distanz ein, Obersichten erhöhen die Tiefenschärfe. Das Leid der Eltern – Nicole Kidman gibt die um Fassung ringende Mutter – bricht jedoch nur punktuell durch, denn alles wirkt leicht in der Schräge, aber seltsam gedämpft. Nicht der Kampf mit einer feindlichen Instanz ist so bedeutend, sondern die Frage, ob man zu einem unerträglichen Verzicht fähig ist. Und diese Frage ist akuter denn je. (Dominik Kamalzadeh, 22.5.2017)