Im Chapelle-Viertel bilden sich immer wieder Zeltlager, die von Migranten bewohnt werden. Erst vor zwei Wochen wurde eines dieser Lager von den Behörden geräumt, die Bewohner wurden delogiert.

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Es ist ihr neuer Dorfplatz. Sie sitzen und stehen auf dem Chapelle-Platz im 18. Stadtbezirk von Paris, plaudern im Schatten der Kastanienbäume, schauen den Passanten zu, teilweise mit stechendem, fast herausforderndem Blick. Allesamt Männer. Auch unter den Passanten sind nur ganz wenige Frauen, sie gehen rasch, gesenkten Hauptes. Spannung liegt in der Luft, vor allem wegen der Straßenhändler, die auf der Hut sind, während zu Beginn der Rue Pajol ein Polizeiwagen mit laufendem Motor wartet.

Die zwei Polizisten im Inneren sind erst seit vergangener Woche hier. Eine Internetpetition in dem multikulturellen Viertel – und darüber hinaus im französischen Parlamentswahlkampf – hat wie eine Bombe eingeschlagen. Bis am Montag forderten mehr als 18.000 Personen den neuen Präsidenten Emmanuel Macron zum Eingreifen auf. Laut den Initiatoren, einem nach eigenen Angaben apolitischen Anwohnerverein, sind die Frauen im Chapelle-Viertel "eine aussterbende Spezies". Täglich würden sie im Vorbeigehen belästigt oder als Schlampen beschimpft; Opfer von Aufsässigen, Betrunkenen, Taschendieben und Händlern, trauten sie sich nicht mehr, vom Ausgang der Metro Chapelle über den Platz nach Hause zu gehen. Fazit der Petition: "Der Chapelle-Platz gehört nun allein den Männern."

Medienwirksames Auftreten

Am vergangenen Freitag besuchte die konservative Regionalratsvorsteherin Valérie Pécresse medienwirksam den Chapelle-Platz, um die "Segregation" mitten in Paris anzuprangern. Vertreter von Migrantenhilfsorganisationen protestierten vor Ort spontan gegen die "Wahlmanipulation" und "rassistische Verquickung" von Migration und Kriminalität. Auf einem Plakat war zu lesen: "Der Sexismus kennt keine Herkunft, keine Hautfarbe."

Auch im Bistro La Royale direkt am Chapelle-Platz würde man vergeblich Kundinnen suchen. Die einzige Frau ist die Kellnerin hinter der Bar. Was sie zur Petition meint, kann sie nicht sagen: Die in einen kurzen rosa Rock gekleidete Chinesin spricht kein Französisch. Vom Pariser Flair der touristischen Innenstadt ist in dem Außenquartier nicht viel zu spüren. Ganze Straßenzüge sind ethnisch orientiert. An der Ostseite des Nordbahnhofs reihen sich indische Läden, nur unterbrochen von einem Ganesh-Tempel. Wenn der Orient in Paris beginnt, ist der Chapelle-Platz Afrika und der gleichnamige Boulevard etwas weiter der Mittlere Osten.

Bürgermeister: "Sicherheitsproblem"

Dort lacht eine ältere Frau, die gerade ein Fahrrad an der Vélib-Mietstation auslöst, nur über die Facebook-Kommentare von Pariserinnen, sie würden beim Gang in die Metro angequatscht: "Der Zugang ist so eng, da gerate sogar ich alte Frau in Körperkontakt mit anderen – ohne dass die das Geringste von mir wollen." Es stimme, abends würde sie nicht allein über den Platz gehen, fügt die Dame hinzu: "Aber das würde ich in Paris an keinem dunkleren Ort tun."

Éric Lejoindre, der Bürgermeister des 18. Arrondissements, räumt ein, dass es vor Ort ein "Sicherheitsproblem" gebe. Das gelte allerdings nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. Schuld sei die Kriminalität der Drogenhändler und Straßenverkäufer. Deshalb habe er die Beleuchtung des Platzes und das Polizeiaufgebot verstärken lassen.

Geräumte Zeltlager

An der Westseite des Platzes, wo nervöse Burschen Zigaretten, Handys und bei Bedarf auch anderes verkaufen, taucht in der Tat eine Patrouille auf. Verkäufer und Ware verschwinden wie von selbst; wütend werfen die Polizisten die zurückgebliebenen Styroporkisten über den Zaun in die Grünanlage der Platzmitte. Die ist geschlossen, offiziell wegen der Rattenplage, die selbst in der City grassiert, aber vielleicht auch, um ein neues Migrantencamp zu verhindern.

Immer wieder räumen die Behörden Zeltlager hier am Rand der Hauptstadt. Vor zwei Wochen evakuierten sie an der Porte de la Chapelle 1.600 Afghanen, Sudanesen und Eritreer, die laut Hilfswerken mehrheitlich aus Deutschland zugereist waren. Unter der Hoch-Metro bei Chapelle bilden sich seither täglich neue Lager, denen die Polizei kaum mehr Herr wird. Gerade der ärmere Nordosten von Paris leidet am meisten unter dem unkontrollierten Migrantenstrom, wie auch die Petition aufzeigt. Und der Adressat im nahen und doch so fernen Élysée-Palast schweigt dazu nur. Dieses Problem ist sogar für den neuen Präsidenten Macron zu brenzlig. (Stefan Brändle aus Paris, 23.5.2017)