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Das Gehirn funktioniert nicht in Rosa-Blau-Kategorien – es ist ein hochkomplexes Zusammenspiel vieler Faktoren.

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Wien – "Weibliche Hormone für ein besseres Gedächtnis", "Späte Mütter sind geistig fitter" oder "Macht Östrogen dumm?" – Wenn man sich die Schlagzeilen zu durchaus seriösen wissenschaftlichen Berichten über die Auswirkungen von Geschlechtshormonen auf das Gedächtnis ansieht, bleibt man oft etwas ratlos zurück.

Denken Männer anders als Frauen, wie immer noch oft suggeriert wird? "Hormone beeinflussen die Gedächtnisleistung", sagt Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gendermedizin an der Med-Uni Wien. "Studien haben gezeigt, dass Frauen gerade bei der Merkfähigkeit besser abschneiden und weniger vergesslich sind als Männer."

Es wird vermutet, dass dafür die Östrogene, die weiblichen Sexualhormone, verantwortlich sind. Denn wenn der Östrogenspiegel während der Menopause absinkt, schwindet auch die Gedächtnisleistung. Nach einer Umstellungsphase normalisiert sich das Erinnerungsvermögen aber wieder. "Östrogen dürfte insbesondere beim sprachlichen Gedächtnis eine wichtige Rolle spielen", sagt der Neurowissenschafter Hubert Kerschbaum von der Uni Salzburg. Demzufolge könnten sich auch Hormonschwankungen während des Menstruationszyklus, die Einnahme der Pille oder der Zeitpunkt des Kinderkriegens auf das Erinnerungsvermögen auswirken, wie diverse Studien (etwa von Roksana Karim von der University of Southern California) nahelegen.

"Was die Auswirkungen von körpereigenem Östradiol – einem wichtigen Östrogen – auf junge Frauen im reproduktionsfähigen Alter betrifft, gibt es keine eindeutigen Ergebnisse", räumt Kerschbaum ein. "Manche Studien finden einen Zusammenhang zwischen Östradiolspiegel und Gedächtnisleistung, andere nicht."

Erfahrung und Übung

Fest steht: Es ist alles nicht so einfach. "Der Einfluss von Sexualhormonen kann durch Erfahrung und Übung ausgeglichen werden", sagt Alexandra Kautzky-Willer. "Wesentlich ist die Neuroplastizität, also dass sich das Gehirn ständig verändert." So haben Stress, Sport und andere Betätigungen Einfluss auf die kognitiven Leistungen. Pilotinnen etwa würden bei den berühmten Rotationsübungen zum räumlichen Vorstellungsvermögen, in denen Männer tendenziell besser abschneiden, genauso reüssieren wie ihre Kollegen, führt Kautzky-Willer ein Beispiel an. Bekannt ist auch, dass Frauen, die mit Geschlechterstereotypen konfrontiert werden, schlechtere Ergebnisse bei mathematischen Aufgaben erzielen als andere Frauen.

Die Frage, ob Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen biologisch determiniert oder ein Produkt sozialer Zuschreibungen sind, beschäftigt Gehirn- wie Genderforschung schon lange. "Eine biologisch orientierte Extremposition wäre jene, dass Hormone bei Erwachsenen nun wirklich das Unterscheidungsmerkmal schlechthin sind und das Verhalten bestimmen. Auf der anderen Seite des Spektrums steht der Standpunkt, dass der Hormonlevel selbst grundlegend von geschlechtlich sozialisiertem Verhalten bestimmt ist", sagt Sigrid Schmitz, Biologin und Wissenschaftsforscherin an der Humboldt-Universität zu Berlin. "Doch solche einfachen Polarisierungen sind heute obsolet, denn die Erforschung der biosozialen Wechselwirkungen bildet heute einen Forschungskern auch in Biologie und Medizin."

Variabler Testosteronspiegel

Den sozialen Einfluss auf den Testosteronspiegel macht eine 2015 im Fachblatt PNAS veröffentlichte Studie der Neuroendokrinologin Sari van Anders von der Universität Michigan deutlich. Sie und ihr Team zeigten, dass allein das Ausführen einer männlich konnotierten Handlung – in diesem Fall das Nachspielen einer Entlassungsszene – dazu führte, dass bei Frauen, die den Boss spielten, der Testosteronspiegel anstieg, nicht jedoch bei Männern. Und zwar unabhängig davon, ob die Entlassung nach einem stereotyp weiblichen, "soften" Muster oder in einer stereotyp männlichen, harten Manier ablief.

Schmitz und ihre Kolleginnen und Kollegen aus Neurowissenschaft und Genderfoschung entwickeln im internationalen Netzwerk Neurogenderings Forschungsansätze, die das hochkomplexe Zusammenspiel von sozialen Normen, Erfahrungen, Biologie und Testbedingungen berücksichtigen, nicht zuletzt um stereotype Verzerrungen zu den vermeintlich großen Unterschieden zwischen den Geschlechtern zu vermeiden.

Um eine differenziertere Forschung zu unterstützen, verweist Schmitz auf ein neues, aktuell diskutiertes Konzept: "Das ,pre-registration protocoll' regt an, dass nicht erst die Ergebnisse einer Untersuchung begutachtet werden, sondern noch vor der Durchführung von Studien das Setting, die Variablen, Ziele und Methoden im Peer-Review-Verfahren diskutiert werden."

Filterfunktion

"Man kann bei Geschlechtsunterschieden im Gehirn nicht in Schwarz-Weiß-Kategorien denken", betont auch Neurobiologe Hubert Kerschbaum. Er ist dem Einfluss der Hormone auf das Hirn schon länger auf der Spur: In einer kürzlich im Journal of Neuroscience Research veröffentlichten Studie hat Kerschbaum die Fähigkeit untersucht, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden.

"Das Arbeitsgedächtnis, das ständig neue Informationen speichern und verarbeiten muss, braucht Filter, um relevante Informationen zu verstärken und andere zu hemmen, also zu vergessen", erläutert Kerschbaum. Die Ergebnisse variierten je nach Aufgabe: Frauen schnitten besser dabei ab, sich Wörter zu merken, als Männer. Wenn es aber darum ging, als unwichtig markierte Wörter zu vergessen, funktionierte das bei Männern besser als bei Frauen.

"Ein Faktor bei der Filterfunktion dürfte das weibliche Hormon Progesteron sein", sagt Kerschbaum. "Aus vergangenen Studien wissen wir, dass eine Aufgabe von Progesteron darin besteht, im Gehirn hemmende Netzwerke zu stimulieren, und sich somit positiv auf die selektive Wahrnehmung auswirkt." Hormone beeinflussen also nicht allgemein die Merkfähigkeit, wohl aber einzelne Prozesse, die bei der Selektion im Gehirn eine Rolle spielen.

Gerechte Bildungschancen

Andere Studien konzentrieren sich auf Umweltfaktoren: "Kognitive Leistungen sind auch abhängig von Lern- und Fördermöglichkeiten", sagt die Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer. Sie führt eine europaweite PNAS-Studie von 2014 ins Feld, die ergab, dass die Geschlechtsunterschiede bei Merkfähigkeit, Mathematik- und Sprachkompetenz in jenen Ländern am geringsten waren, wo es bessere Lebensstandards und gerechtere Bildungschancen gab.

Einig scheinen sich die Experten jedenfalls in einem Punkt zu sein: Körper und Gehirn sind so dynamisch miteinander verbunden, dass es sehr schwer ist, die Mechanismen dahinter aufzudecken. Zumal immer wieder festgestellt wird, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Verhältnis zu den Schwankungen unter den Angehörigen desselben Geschlechts eher gering ausfallen. (Karin Krichmayr, 24.5.2017)