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Von April bis Ende Mai hat der Mount Everest, sofern es das Wetter zulässt, Hochsaison. Allein vergangenes Wochenende verloren auf dem höchsten Berg der Welt vier Alpinisten ihr Leben. Zuvor war der Schweizer Extrembergsteiger Ueli Steck bei einer Vorbereitungstour verunglückt.

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Manfred Ruoß: "Der Everest bietet die Maximaldosis."

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STANDARD: Der Everest erlebte als Sehnsuchtsberg dieser Tage einen Massenansturm. Wären diese Menschen in einer Therapie besser aufgehoben als auf 8000 Metern?

Rouß: Nein. Das sind ganz normale Menschen, aber eben auch Kinder unserer Zeit: Wir leben in einer Gesellschaft, die den Einzelnen stark an seiner Leistung misst. Die Berge bieten eine gute Bühne, um den eigenen Selbstwert zu präsentieren und zu steigern.

STANDARD: In Ihrem Buch über die Psychologie des Bergsteigens stellen Sie fest, dass wir in einem Zeitalter des Narzissmus leben ...

Ruoß: ... Was mir nicht als Erstem auffällt. Dabei muss Narzissmus noch nichts Schlimmes sein, es ist positiv, sich selbst zu mögen. Extrembergsteiger weisen aber häufig maligne Formen auf – im Gegensatz zu Alltagsbergsteigern, für die der sogenannte Flow viel wichtiger ist: das Aufgehen im Tun, das Naturerlebnis, das Spielerische.

STANDARD: Everesttouren haben nichts Spielerisches an sich. Erst endlos ödes Warten im Basislager und Akklimatisierung, dann brutale Strapazen – was ist der Kick?

Ruoß: Wie ich in vielen Gesprächen erfahren habe, geht es darum, das eigene Image zu verbessern. Den höchsten Berg der Welt zu erklimmen ist ein unglaublicher Gewinn für die persönliche Bilanz. Mache ich eine Hochtour auf einen beliebigen 4000er wie das Lauteraarhorn in der Schweiz, kann diese Leistung niemand einschätzen. Dass die meisten, die diesen Berg besteigen, vermutlich technisch versiertere Alpinisten sind als jene am Everest, ist bedeutungslos, damit kann ich nicht angeben. Der Mount Everest hingegen bietet mir die Maximaldosis.

STANDARD: Manche Höhenbergsteiger präsentieren hinterher fast stolz ihre abgefrorenen Zehen.

Ruoß: Das gehört zur Heldenverehrung dazu: Opfer bringen, gezeichnet sein, Tapferkeitsmedaillen einstreifen. Es ist eine uralte Geschichte. Die Burschenschafter präsentieren bis heute ihre durch Schmiss entstellten Gesichter, die Leute lassen sich tätowieren. Ein abgefrorener Zeh beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit des Durchschnittswestlers nicht, ist aber eine Trophäe: Man zeichnet sich als einer aus, der über Grenzen geht.

STANDARD: Giert die Gesellschaft heute geradezu nach Helden?

Ruoß: Das existiert, seit es höher entwickelte Kulturen gibt. Bei den alten Griechen gab es die Olympioniken, bei den alten Römern die Gladiatoren: Das waren keine Menschen, die mit Gewalt in die Arena getrieben wurden, sondern hochbezahlte Spezialisten. Glaubt man den Quellen, dann war die Todesrate der Gladiatoren niedriger als bei polnischen Höhenbergsteigern der Siebziger- und Achtzigerjahre. Extrembergsteiger geben heute besonders gute Vorbilder ab, sie tun genau das, was die Leistungsgesellschaft fordert: Sie setzen alles ein, geben nicht auf.

STANDARD: Sie hingegen halten viele Topalpinisten für Opfer. Warum?

Ruoß: Aus all den Biografien, die Spitzenbergsteiger über sich selbst publizieren, ergibt sich ein Muster: Sie gewinnen ihre Selbstgewissheit über Leistung, stabilisieren sich damit. Eine Zeit lang geht das sehr gut: Junge Kerle steigern sich von Tour zu Tour – der Anstieg wird schwieriger, das Tempo höher, die Dauer länger. Wer das hauptberuflich macht, gerät in eine Endlosspirale, doch jedes Jahr eine neue Expedition zu liefern, ist physiologisch unmöglich. Ab dem Alter von 30 Jahren baut der Mensch ab. Diese Bergsteiger kommen aber nicht aus der Schleife heraus. Sie stehen unter ungeheurem Erwartungsdruck, deshalb diese extrem hohen Todesraten. Denn irgendwann stürzen sie ab – zum Teil sind da versteckte Suizide dabei.

STANDARD: Heimlicher Selbstmord?

Ruoß: Manche gehen einfach auf Touren, bei denen von vorneherein klar ist: Das wird nicht mehr bewältigbar sein. Der Tod der berühmten polnischen Bergsteigerin Wanda Rutkiewicz, die ihren Zenit längst überschritten hatte, war aus meiner Sicht eine solche suizidale Handlung. Sie hat damals ...

STANDARD: ... 1992 als knapp 50-Jährige am Kangchendzönga, dem dritthöchsten Berg der Welt ...

Ruoß: ... eindeutige Hinweise, umkehren zu müssen, nicht akzeptiert – und wurde nie wieder gesehen. In der Schweiz gibt es eine Studie, die Berufsbergführern eine deutlich höhere Suizidrate attestiert als der Normalbevölkerung. Eine Rolle spielt dabei, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr genügen: Unfehlbarkeit und Leistung schwinden.

STANDARD: Was macht Spitzenbergsteiger zu dem, was sie sind?

Ruoß: Typisch sind fehlende Vaterfiguren, zerbrochene Familien. Oder der Vater ist sehr fordernd, erkennt Leistungen der Kinder, vor allem der Jungs, nicht an und verlangt mehr. Seine Botschaft: Du musst dich anstrengen, um anerkannt zu werden, mir jedoch wirst du nie genügen. Das ist Nährboden dafür, durch ständige Leistung um Anerkennung zu kämpfen.

STANDARD: Sehen Sie Unterschiede zwischen den Geschlechtern, also zwischen einem Reinhold Messner und einer Gerlinde Kaltenbrunner?

Ruoß: Das Muster ist stark männlich ausgeprägt und zum Teil physiologisch bedingt. Es gibt hormonelle Unterschiede, wie Emotionen reguliert werden. Hohen Anteil trägt aber auch die Erziehung – das Rollenverständnis, das Mädchen und Jungs mitbekommen.

STANDARD: In Ihrem Buch beschreiben Sie Kaltenbrunner als deutlich weniger egomanisch veranlagt.

Ruoß: So ist zumindest das Bild, wie sie sich öffentlich darstellt – es handelt sich schließlich um eine Literaturanalyse. Es zeigt, dass sich Frauen hier konservativer und reservierter geben. Männer hingegen hauen auf den Putz und lassen ihre innersten Beweggründe ungefiltert heraus. Ich denke aber schon, dass Kaltenbrunner weniger kompetitiv ist als viele Männer in diesem Metier. Es ist mehr Empathie zu erkennen.

STANDARD: Sie haben auch ein Psychogramm des Schweizer Staralpinisten Ueli Steck erstellt.

Ruoß: Ich habe im privaten Kreis mehrfach gesagt, ich glaube, er kehrt von seiner heurigen Everest-Expedition nicht zurück. Dass er Ende April tatsächlich tödlich verunglückt ist, hat mich getroffen.

STANDARD: Woher diese Ahnung?

Ruoß: Der Mann war 40. Er hat sich über Jahre permanent gesteigert, auch unter Druck der Medien und Sponsoren immer mehr geliefert. Das geht auf Dauer nicht gut.

STANDARD: Sie sind mit ihm aus psychologischer Sicht hart ins Gericht gegangen. Warum?

Ruoß: Es war keine Absicht. Aber ich hielt sein Bündnis mit den Medien für sehr problematisch. Das Vorbild, das er lieferte, ist nicht nur für Amateurbergsteiger riskant und gefährlich. So kann ich auch in der Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft nicht agieren. Diese Menschen referieren auf Einladung von Firmen darüber, wie man Ziele erreicht. Aber schauen Sie sich an, was mit VW oder der Deutschen Bank passierte: Größenwahnsinnige Manager haben diese Konzerne fast ruiniert – mit Verhalten, das extreme Bergsteiger vorleben: Mit reinem Fokus aufs Ziel, auf das Kompetitive, mit fehlender Empathie und Unfähigkeit, Kritik anzunehmen.

STANDARD: Ein Unternehmen wie eine Expedition zu führen klingt doch innovativ und mutig: Grenzen verschieben zu wollen – ist das nicht ein Motor des Fortschritts?

Ruoß: Fortschritt basiert nicht auf fanatischem Festhalten an Zielen Einzelner. Ich zitiere das "Managermagazin": In vielen Konzernen agieren Alleinherrscher. Das geht oft lange gut, doch am Ende treiben Autokraten Firmen regelmäßig ins Chaos. Individuelles Zielstreben ist ein wichtiges Moment, aber nur eines. Es geht um Teamarbeit – nicht um den schnellsten Weg von A nach B, ohne zu achten, was links und rechts passiert. Hätten wir das nicht gelernt, wären wir noch Jäger und Sammler.

STANDARD: Was ist mit der vielbeschworenen Bergkameradschaft?

Ruoß: Die kann es im Amateurbereich durchaus geben, ist aber mythenbesetzt. Bekannte Extrembergsteiger existieren immer als Alleinfiguren, sie halten Seilpartner neben sich kaum aus. Den Ruhm zu teilen fällt sehr schwer.

STANDARD: Steck riet dazu, Ihr Buch in den Mistkübel zu werfen. Ist Ihr Befund aus der Ferne, ohne mit den Menschen selbst gesprochen zu haben, letztlich nicht anmaßend?

Ruoß: Da ist was dran, es handelt sich ja um eine Literaturanalyse. Stellen sich Menschen in Biografien öffentlich so dar, wie sie gesehen werden möchten, dann darf man das aber kritisch rezitieren. Meine Aussagen basieren auf Originalzitaten, die ich interpretiere.

STANDARD: Sie sind selbst passionierter Bergsteiger. Wie viel Selbstdiagnose steckt in Ihrem Befund?

Ruoß: Es ist gewiss auch Selbstreflexion. Mich hat erschreckt, wie schlimm es um mich selber steht. Vor Jahren habe ich mich daran erfreut, einen 4000er zu besteigen. Es wurden jede Saison mehr, bald war ich auch damit nicht mehr zufrieden. Nordwände mussten her, der Aconcagua im Alpinstil ohne Führer. Ich begann, zu klettern, irgendwann Free Solo ohne Sicherung. Ich geriet in eine Spirale. Gelegt hat sich das erst in den letzten Jahren. Ist man einmal jenseits der 60, kann man halt auch einfach nicht mehr so schnell. (Gerald John und Verena Kainrath, 28.5.2017)