Das menschliche Gehirn ist schwer zu erforschen. Bei MS werden Nervenzellen zerstört. Die Forschung arbeitet daran, die Ursachen für diese Selbstzerstörung zu klären.

Foto: iStockphoto

Innsbruck – "Anfangs wollt ich fast verzagen", schrieb einst der deutsche Dichter Heinrich Heine, der an multipler Sklerose (MS) litt. Seit hunderten Jahren ist die Erkrankung des Zentralnervensystems bei jungen Erwachsenen bekannt. Die Symptome beginnen meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr – doch bis heute ist unklar, welche Vorgänge zur Entstehung von MS führen. Bislang gilt die Krankheit als unheilbar, aber man kann mit ihr leben.

MS tritt bis zu viermal häufiger bei Frauen als bei Männern auf. Der Grund dafür ist eines von vielen Rätseln um die Erkrankung. Forscher der Washington University School of Medicine in St. Louis haben ein Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Protein als mögliche Ursache ausgemacht. Das Protein kommt bei Frauen häufiger vor als bei Männern und reguliert die Durchlässigkeit der Blutgefäße. Ist viel von diesem Rezeptor vorhanden, können autoaggressive Zellen leichter vom Blutkreislauf ins Gehirn übertreten und dort die Myelinschicht der Nervenfasern angreifen.

Schubumkehr im Abwehrsystem

Man geht heute davon aus, dass MS eine Fehlsteuerung des Immunsystems zugrunde liegt, wie es der Leiter der Wiener MS-Ambulanz Fritz Leutmezer in seinem MS Lesebuch beschreibt. Im Körper entwickeln sich Lymphozyten, die sich gegen körpereigene Nervenzellen richten. Eigentlich sollten diese Abwehrzellen körperfremde Erreger angreifen. Doch im Fall von MS wird die schützende Myelinschicht, die den Kern der Nervenzelle, das Axon, schützt, attackiert. In weiterer Folge wird das Axon zerstört, und es kommt zu Ausfallserscheinungen, den typischen Symptomen eines Schubes. Die schubförmig verlaufende MS ist die häufigste Form der Erkrankung. Gleich nach Entstehen eines solchen Entzündungsherdes beginnen andere Zellen, die beschädigte Myelinschicht zu reparieren. Das gelingt aber nur teilweise, und es kommt meist zu Vernarbungen der Myelinscheide, auch Sklerose genannt, die der Krankheit ihren Namen gab.

Da bis heute nicht gänzlich klar ist, warum MS entsteht, ranken sich viele Gerüchte um die Krankheit. So sorgt die ungleiche Nord-Süd-Verteilung seit Jahren für Spekulationen. Denn aus ungeklärten Ursachen tritt MS in Ländern Nord- und Mitteleuropas sowie Nordamerikas deutlich häufiger auf. Das nährte Vermutungen, dies könnte mit dem Klima und in weiterer Folge mit dem Vitamin-D-Spiegel zu tun haben.

Die großen Unbekannten

Zahlreiche Forscher haben sich in den vergangenen zehn Jahren damit befasst, konnten aber keinen Zusammenhang feststellen. Zuletzt wurde am europäischen MS-Kongress im Oktober 2016 eine Studie vorgestellt, für die mit Megadosen von Vitamin D gearbeitet wurde, und auch dabei wurde keinerlei Effekt bezüglich des MS-Verlaufs festgestellt.

Wie sehr sich die Lehrmeinung zu MS ändern kann, zeigt das Thema Schwangerschaft. Seit kurzem ist die protektive Wirkung in Zusammenhang mit MS durch Studien gesichert – Schwangerschaft schützt vor Schüben. Vor 20 Jahren galt hingegen noch, dass Schwangerschaften ein Risiko bedeuten, ja sie wurden sogar bisweilen abgebrochen.

Wer wissen will, wie sich der Alltag mit MS anfühlt, hat am Mittwoch, den 31. Mai 2017 im AKH Wien Gelegenheit dazu. Anlässlich des Welt-MS-Tages wird anhand einer nachgestellten Wohnsituation verdeutlicht, was die Diagnose für die Patienten bedeutet. Man spürt, wie es ist, wenn es unerträgliche Kraft braucht, um eine Kaffeeschale zu heben, aus einem Sessel hochzukommen oder einfach über einen Teppich zu gehen. "Wer dieses MS-Haus und seine Hürden erlebt hat, wird verstehen, wie vielschichtig sich die Beschwerden von MS-Patientinnen auswirken können," sagt dazu Eduard Auff, Leiter der Universitätsklinik für Neurologie in Wien.

Gesunder Lifestyle

Zwar gilt MS bis heute als unheilbar, doch die Angst vor einem Leben mit schwersten Behinderungen ist dank Fortschritten in Therapie und Diagnostik unbegründet. "Es ist Zeit, dieses negative Bild durch ein deutlich positiveres zu ersetzen. Heute landen die wenigsten Patienten im Rollstuhl", sagt Thomas Berger, Leiter der Arbeitsgruppe Neuroimmunologie und MS an der Medizinischen Universität Innsbruck.

Er hält einen gewissen Optimismus bei MS-Patienten für berechtigt. Seine mehr als 20-jährige Erfahrung im Umgang mit Betroffenen habe ihm gezeigt, dass ein Leben mit MS heute problemlos möglich sei. So liegt die Lebenserwartung von MS-Patienten nicht unter dem Durchschnitt der Bevölkerung. "Erstaunlicherweise sind sie sogar relativ gesunde Menschen, wenn sie nicht MS hätten. Die Wahrscheinlichkeit, an Tumoren oder klassischen Volkskrankheiten wie Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erkranken, ist deutlich geringer als in der altersentsprechenden Vergleichsgruppe", erklärt Berger. (Steffen Arora, 30.6.2017)