Thomas Berger (53) ist Neurologe und stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck. Zudem ist er Leiter der Multiple-Sklerose-Ambulanz Innsbruck, wo derzeit rund 3000 Patienten betreut werden.

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STANDARD: Multiple Sklerose verläuft meistens in Schüben. Wodurch ist ein solcher Schub gekennzeichnet?

Berger: Per definitionem versteht man darunter neu auftretende oder wiederkehrende neurologische Beschwerden, die mindestens 24 bis 48 Stunden andauern und die nicht durch etwas anderes erklärbar sind. Diese Definition ist sehr wichtig, um echte von sogenannten Pseudoschüben zu unterscheiden. Denn Prognose und Therapie der Krankheit hängen sehr stark mit den Schüben zusammen. Das heißt, wenn ein vermeintlicher Schub keiner ist, kann man hier sehr schnell auf dem falschen Dampfer sitzen.

STANDARD: Wie kommt es zu solchen Pseudoschüben?

Berger: Pseudoschübe sind in erster Linie über Temperaturerhöhung definiert. Das hat einen physikalischen Grund: An der Stelle der Nerven, wo ein Schaden war, bildet sich die Myelinschicht wieder zurück, aber nicht im ursprünglichen Ausmaß. Das beeinträchtigt die normale Funktion nicht. Aber wenn es zu einer Temperaturerhöhung kommt, wird die Signalübertragung am Nerv an genau dieser Stelle blockiert, weil das temperatursensibel ist, und die Leute spüren genau dieselben Symptome wieder.

STANDARD: Soll man jeden Schub, wenn er als solcher erkannt wird, mit Cortison behandeln?

Berger: Ja, jeder eindeutige Schub sollte mit Cortison behandelt werden, nach dem Motto kurz und hochdosiert. Es macht hier keinen Sinn, zwischen leichtem oder schwerem Schub zu unterscheiden, weil die Wahrnehmung der Folgen subjektiv ist. Daher gilt das Dogma, dass jeder Schub behandelt werden muss.

STANDARD: Wie ist es um die Medikamente bestellt, die Schübe generell vermeiden sollen? Gibt es darunter eines, das am wirksamsten ist?

Berger: Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Derzeit sind 13 Medikamente in Österreich zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen, wobei heuer wohl noch drei dazukommen werden. Sie alle haben einen unterschiedlichen, behaupteten Wirkmechanismus. Behauptet deshalb, weil schon das bei einer Krankheit, von der man nicht genau weiß, was sich immunologisch wirklich im Individuum abspielt, schwer zu sagen ist. Man muss zudem zwischen Wirksamkeit und Nebenwirkungen abwägen. Bei einem Krankheitsver-lauf mit vielen Schüben wählt man das wirksamste Medikament, auch wenn es vielleicht stärkere Nebenwirkungen hat.

STANDARD: Bedarf es in der Behandlung von MS folglich eines individualisierteren Umgangs mit den Patienten?

Berger: Ich habe eine holistische Vorstellung in der Behandlung von MS. Dazu möchte ich gern eine Art Persönlichkeitsprofil der Patienten erstellen. Denn ich glaube, dass die Persönlichkeitsstruktur beim Umgang mit einer Krankheit, die mich nicht zwangsweise körperlich, aber auf jeden Fall emotionell ein Leben lang beschäftigen wird, eine wichtige Rolle spielt. Das heißt, dass ich basierend auf der klassischen MS-Therapie je nach Typ das individuelle Therapieangebot erweitere. Das reicht von Komplementärmedizin bis hin zu Psychotherapie oder von mir aus auch Trommeln im Wald. Warum nicht, wenn es jemandem hilft? Ich spreche also von einer Individualisierung über das Ganzheitliche und nicht allein über Biomarker, von denen ich im Übrigen aber auch ein großer Fan bin. (Steffen Arora, 30.5.2017)