Sex ohne Verhütung – ohne es zu wissen. Beim Stealthing wird heimlich das Kondom entfernt.

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Maria Sagmeister: "Es gibt viele Formen der sexualisierten Gewalt, das Netz verschafft ihnen neue Möglichkeiten und eine viel größere Reichweite."

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Ungeschützter Geschlechtsverkehr wider Willen: Stealthing heißt das Phänomen, bei dem der Mann beim Sex heimlich und gegen die Vereinbarung das Kondom entfernt. Betroffen davon sind Frauen und Männer, ungewollte Schwangerschaften und sexuell übertragbare Krankheiten können die Folge sein. Besonders perfide: In Foren tauschen sich die Täter darüber aus. Aber: In der Schweiz gibt es jetzt das erste Gerichtsurteil dazu. dieStandard.at sprach mit der Juristin Maria Sagmeister über die Rechtslage in Österreich.

STANDARD: Was ist Stealthing?

Maria Sagmeister: Wenn jemand während des Geschlechtsverkehrs heimlich, das heißt ohne Einverständnis der PartnerIn, das Kondom entfernt oder absichtlich ein beschädigtes Kondom verwendet.

STANDARD: Stealthing ist ein Phänomen, das aus den USA kommt. Es gibt aber auch auf Deutsch Foren, in denen Tipps gegeben werden, wie man es am besten praktizieren und dann leugnen kann.

Sagmeister: Das ist leider wahr. Ich weiß nicht, ob es dieses Phänomen ohne das Internet so gäbe. Es gibt viele Formen der sexualisierten Gewalt, das Netz verschafft ihnen neue Möglichkeiten und eine viel größere Reichweite. Ich denke da etwa an das Phänomen Revenge-Porn, wo Nacktbilder oder Ähnliches ohne Einwilligung der abgebildeten Person von Ex-PartnerInnen online gestellt werden.

STANDARD: Betroffene beschreiben neben der Angst vor körperlichen Folgen auch den Vertrauensbruch in so einer intimen Situation als besonders belastend. Ist dieser "Trend", jemanden absichtlich so zu hintergehen, neu? Oder ist nur das Phänomen, dass in sozialen Medien "Anweisungen" dazu gegeben werden, neu und besonders perfid?

Sagmeister: Diese Foreneinträge sind erstaunlich grauslich und unverblümt. Viele davon sind sehr frauenfeindlich. Leider beobachten wir im Moment nicht nur im Netz einen Backlash, sexistische Aussagen werden wieder salonfähiger. Zum Glück gibt es auch laute Gegenstimmen.

STANDARD: Was ist die Motivation für eine solche Tat?

Sagmeister: Nach einer Recherche in solchen Foren muss ich sagen: Es ist erschreckend, welche Ideologie einem da entgegenkommt. Vom männlichen Anrecht, seinen Samen zu verbreiten, ist da die Rede.

STANDARD: Seit wann gibt es das Phänomen?

Sagmeister: Das kann ich nicht genau sagen. Seit diesem Jahr gibt es jedenfalls die mediale Aufmerksamkeit dafür, seit April 2017, um exakt zu sein. Wichtig war dafür eine Studie der amerikanischen Rechtswissenschafterin Alexandra Brodsky.

STANDARD: In der Schweiz gab es kürzlich erstmals ein Gerichtsurteil dazu. In Lausanne wurde ein Mann, der nach dem Vorfall einen HIV-Test verweigert hatte, für Stealthing in erster Instanz wegen Vergewaltigung, in zweiter Instanz wegen Schändung verurteilt. Was ist der Unterschied?

Sagmeister: In der Schweiz braucht eine Vergewaltigung eine sogenannte Nötigung, also zum Beispiel Gewaltanwendung oder psychischen Druck. Sie kann nach dortiger Rechtslage außerdem nur an einer Frau begangen werden. Eine Schändung liegt vor, wenn keine Gewalt angewendet wurde, aber die Urteilsunfähigkeit oder die Unfähigkeit zum Widerstand einer Person ausgenutzt wurde. Es handelt sich aber bei beidem um Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, und der Strafrahmen ist fast derselbe. Die Höhe der Strafe hat sich in der zweiten Instanz nicht verändert, der Mann hat zwölf Monate bedingt bekommen.

STANDARD: Gibt es diesen Tatbestand der Schändung in Österreich überhaupt?

Sagmeister: Nein.

STANDARD: Ist in Österreich mit dem Stealthing der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt?

Sagmeister: Auch im österreichischen Strafrecht ist die Voraussetzung dafür eine Nötigungshandlung, Stealthing würde also eher nicht als Vergewaltigung gewertet. Aber das Sexualstrafrecht wurde im vorigen Jahr reformiert. Der neue Paragraf 205a StGB – "Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung" – könnte hier zur Anwendung kommen. Darin heißt es: "Wer mit einer Person gegen deren Willen ... den Beischlaf vornimmt ..." Es ist also der Wille ausschlaggebend. Die PartnerIn hat zwar dem Sex zugestimmt, nicht aber dem ungeschützten Sex, das ist eine andere Handlung.

STANDARD: Was ist der Strafrahmen von Paragraf 205a StGB?

Sagmeister: Es droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren. Bei einer Vergewaltigung ist der Strafrahmen höher, bis zu zehn Jahren.

STANDARD: Ist Stealthing nicht schwer beweisbar?

Sagmeister: Die Beweisbarkeit ist immer ein Problem, wenn Aussage gegen Aussage steht. Wenn nach dem Stealthing eine ungewollte Schwangerschaft oder eine Ansteckung mit einer sexuell übertragbaren Krankheit vorliegt, kann der medizinische Befund als Beweis herangezogen werden.

STANDARD: Wenn man in Kauf nimmt, die PartnerIn anzustecken, ist das Körperverletzung?

Sagmeister: Wenn der Täter oder die Täterin eine meldepflichtige Krankheit hat, kann außerdem Paragraf 178 StGB – "Vorsätzliche Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten" – zur Anwendung kommen. Der Strafrahmen reicht dabei bis zu drei Jahren. Bei anderen Krankheiten könnte außerdem eine Körperverletzung oder, wenn keine Ansteckung passiert ist, eine versuchte Körperverletzung vorliegen. Auch Schadenersatzforderungen sind denkbar.

STANDARD: Nicht nur Frauen, auch Männer sind bei homosexuellen Praktiken von Stealthing betroffen. An welche Stellen können sich Betroffene für psychologische und rechtliche Betreuung in Österreich wenden?

Sagmeister: Zum Beispiel an den Frauennotruf oder den Weißen Ring. Opfer von sexualisierter Gewalt haben in einem Strafverfahren auch das Recht auf psychosoziale und juristische Prozessbegleitung.

STANDARD: Machen sich auch die Anstifter in den Foren schuldig? Wie kann man sie belangen?

Sagmeister: Die Aufforderung zu, aber auch die Gutheißung von mit Strafe bedrohten Handlungen ist durch Paragraf 282 StGB geregelt. Das könnte in solchen Fällen zutreffen. Wenn jemand im Internet auf so etwas stößt, empfehle ich, zur Beweissicherung einen Screenshot zu machen. Das Netz ist kein rechtsfreier Raum. (Tanja Paar, 13.6.2017)