Wien – Er ist wie eine Erscheinung aus einer vergangenen Welt: als es im Konzertleben vor allem noch um das Wesentliche ging, als nicht die HiFi-Perfektionsästhetik den Ton angab und Liveauftritte nach dem Muster perfektionistischer CD-Einspielungen gestylt werden mussten. Auch gestische Mätzchen – ja überhaupt irgendwelche Signale der Äußerlichkeit finden sich nicht bei ihm. Stattdessen verkörpert Pianist Radu Lupu den Typus des ganz mit seinem Tun verbundenen Künstlers, der im Konzert vor allem eines ist – Zuhörer nämlich.

Versonnen lauscht er selbst dem Klang und leuchtet in die Stücke hinein. So vermag er im Großen Musikvereinssaal sogar den zwölf Charakterstücken Die Jahreszeiten von Peter Iljitsch Tschaikowskij Tiefe und Präsenz zu verleihen. Er ließ dabei die teilweise Flachheit und Simplizität der wiederholungsschwangeren Stimmungsbilder zugunsten suggestiver Atmosphäre fast vergessen. Er schaute und hörte hier ebenso genau hin wie bei den beiden gewichtigeren Werken vor der Pause: Joseph Haydns Andante con Variazioni f-Moll, die tiefsinnige Doppelvariationen-Reihe, die gegen Ende in dramatische Entwicklungen kippt, näherte er sich mit ungeheurer Liebe zum Detail, während er bei eher bedächtiger Tempowahl die Spannung über das Ganze hielt.

Radu Lupu ließ die beiden Themen zart singen, die beredten Verzierungen und Figurationen wie Momenteingaben erscheinen, förderte in den Nebenstimmen bedeutsame Linien und Motive zutage – fast so, als wäre er schon bei der folgenden C-Dur-Fantasie von Robert Schumann. Ohne je an vordergründend brillante Pianistik anzustreifen, fand er hier zu vorwärtspreschender Leidenschaftlichkeit. Vor allem aber schaffte er innige Gesanglichkeit und geradezu psychologische Feinzeichnung des plötzlichen Stimmungswandels.

Das hatte vor allem mit zweierlei zu tun: mit seiner Fähigkeit, aus der Versunkenheit heraus Schichten aus dem Stimmgeflecht zu beleuchten und ihren Sinn sprechen zu lassen, und mit der Mischung aus Weisheit und Heiterkeit, die das Tun des 71-Jährigen überhaupt durchdringt: Auch darin ist er eine Erscheinung. (Daniel Ender, 1.6.2017)