Eine rationale Strategie – wie lässt sich das beschreiben?

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"Rational handeln" bedeutet, den maximalen Nutzen zu erzielen. So lautet das Mantra strategischen Denkens. Individualistisch gesehen: das Erzielen des größtmöglichen subjektiven Vorteils. Rational handelt also, wer langfristig sein Eigeninteresse verfolgt und auf Optimierung bedacht ist.

Kann dies funktionieren? Nicht, so lehrt uns das "Gefangenendilemma", wenn jede Person die Strategie der individuellen Nutzenmaximierung verfolgt. Die Geschichte ist bekannt: eine Richterin verhört getrennt zwei eines Bankraubs verdächtige Gefangene (jede Absprache der beiden ist ausgeschlossen) und bietet jedem der beiden an, frei zu gehen, wenn er gesteht; der andere wandert für zehn Jahre ins Gefängnis. Als individuelle Nutzenmaximierer werden beide die Strategie "gestehen" wählen und die Richterin hat ihr Ziel erreicht: Acht Jahre Gefängnis für beide (minus zwei Jahre Strafmilderung infolge des Geständnisses). Hätten beide geschwiegen, wären sie nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes für kurze Zeit inhaftiert worden.

Kooperation und Vertrauen

Eine auf subjektive Maximierung reduzierte Rationalitätskonzeption ermöglicht keinen Ausweg aus diesem Dilemma, sehr wohl aber Kooperation und die Bande des Vertrauens und des Sich-Verlassen-Könnens. Doch diese Form der Kooperation verlangt einen kategorialen Wechsel: das Angebot des subjektiven Nutzenmaximierers "Ich schweige, wenn du dies auch tust" genügt nicht. Denn das Angebot des egoistisch denkenden Nutzenmaximierers ist eine in seine Strategie eingebaute Kondition, die im Rahmen der egoistischen Strategie zur Finte wird: sobald die andere Person in die Kooperation einwilligt, gewinnt der Nutzenmaximierer. Gemessen an seiner Rationalitätskonzeption hat er hat keinen Grund, seinerseits zu kooperieren, sobald die andere Person die Kooperation wählt. Erforderlich ist also die Verpflichtung beider Parteien auf ein anderes Verständnis von rationaler Interaktion, denn die rationale Entscheidung für Kooperation muss auf anderen Gründen beruhen als dem der Vorteilsmaximierung. Wie kann dies erreicht werden?

Das Toxin-Puzzle

Das berühmte Toxin-Puzzle des amerikanischen Philosophen Gregory S. Kavka illustriert gleichfalls die Schwachstellen eines auf individuelle Nutzenmaximierung beschränkten Rationalitätsbegriffs. Ein exzentrischer Millionär bietet einer Person A eine Million Dollar, wenn sie am Montag um Mitternacht die Intention (feste Absicht) hat, Dienstagnachmittag ein Gift zu trinken, das für 24 Stunden extreme Übelkeit verursacht, ansonsten aber keine anhaltenden Folgen nach sich zieht. A erhalte die Million Dollar sofort, wenn Montag um Mitternacht eine mit einem perfekten Gehirnscanner ausgestattete Kommission zu dem Ergebnis kommt, dass A die feste Absicht hat, Dienstagnachmittag das Gift zu trinken. Kann A die Million Dollar erhalten?

Nicht, wenn A rationale Nutzenmaximiererin ist – so lautet die Botschaft des Toxin-Puzzles. Denn in diesem Fall hat A keinen Grund, Dienstagnachmittag das Gift zu trinken – sie bekommt ja, vorausgesetzt sie formt die Absicht, die Million Dollar Montag um Mitternacht. Das Trinken des Gifts am Dienstagnachmittag ist eine irrationale Nutzenminderung. Wieso also das Gift am Dienstagnachmittag noch trinken? Doch als rational denkende Nutzenmaximiererin übersieht A all dies bereits im Vorhinein; sie weiß um dieses irrationale Szenarium, das sich Dienstagnachmittag zwangsläufig ergibt. Fazit: sie kann nicht die feste Absicht formen, Dienstagnachmittag das Gift zu trinken und die Million Dollar bleibt für die egoistische Nutzenmaximiererin unerreichbar.

Überlegen scheinen jene, die einfach die Million Dollar wollen und bereit sind, Abstriche zu machen (in dem Fall: Übelkeit für 24 Stunden), die rein für sich gesehen irrational wirken. Was sind dies für Personen? Sind sie noch rational Handelnde? Wie genau lässt sich ihre rationale Strategie beschreiben? (Herlinde Pauer-Studer, 12.6.2017)