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Schrödingers Ball, geköpfelt von Marcelo Salas: Für die einen war er hinter der Linie, für die anderen nicht.

Foto: Reuters/Pawel Kopczynski

Unter all den weisen, sinnreichen Dingen, die der Fußball uns lehrt fürs Leben, ist die Schnörkellosigkeit der Wahrheitsfindung gewiss das schönste. Wir Komplexler neigen im Normalbetrieb ja eher – und bedauernswerterweise zunehmend – dazu, in allem auch was jeweils anderes nicht nur zu sehen, sondern auch zu verstehen. Manchmal geschieht es gar, das Falsche fürs Richtige zu nehmen; zuweilen unterläuft uns das Gegenteil davon; und am Ende weiß keiner mehr – nicht nur buchstäblich – ob er ein Mandl ist oder ein Weibl.

Dagegen das Fußballspiel! Da gilt er noch, dieser klare, unmissverständliche Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Foul oder nicht Foul, Abseits oder nicht Abseits, Tor oder nicht Tor – tertium non datur.

Auf und am

Die Wahrheit liegt auf dem Platz, sagt der Fußballweise, wenn er es überdrüssig ist, gegen jene anzuargumentieren, die davon ausgehen, sie liege am Platz! Am Platz, an dem Platz, geht aber die Geradlinigkeit verloren. Hier wird nicht entschieden, sondern beschieden; nicht gerichtet, sondern gerechtet; nicht erstritten, sondern gestritten.

Zur Wahrheitsfindung selbst trägt das alles nichts mehr bei. Die Frage, ob etwas ein Abseits war oder nicht, ein Handspiel oder nicht, eine rote Karte oder nicht, ist dann so müßig wie die Frage, ob das dicke Weiße, das grad vom Himmel fällt, Schnee sei. Gott und der Schiedsrichter gleichen sich insofern, als beide aus Eigenem Tatsachen schaffen. Das ist das Wesen der sogenannten Tatsachenentscheidung. Natürlich folgt auch diese gewissen festgeschriebenen Regulativen. Aber wie der Herrgott selbst kann auch der Schiedsrichter auf krummen Zeilen sehr wohl sehr gerade schreiben und ein Tor zu einem Tor machen. Oder aus keinem keines. Je nachdem. Denn er ist es, der die Tatsache erst schafft.

Dagegen hilft auch kein noch so hübscher Videobeweis. Was wiegt, das hat's. Wer auf dem Platz glaubt, dagegen Einspruch erheben zu können, geht duschen. Wer es am Platz tut, kann sich brausen gehen.

Das ist ganz so wie im wirklichen Leben – vor und nach den 90 Minuten also -, in dem ja nicht selten auch einer zum Handkuss kommt wie die Jungfrau zum Kind (oder umgekehrt). Aber wenn der Herrgott geschiedsrichtet hat, ist schwer, mit ihm zu rechten, zumal er zu Recht darauf hinweisen wird, ein Ungemach treffe gerechterweise einmal den Gigl, dann eh wieder den Gogl.

Wirklichkeiten

Mattersburgs Alois Höller, der unlängst das klassenerhaltende 1:0 gegen Altach aus einer klaren Nichtabseitsstellung erzielt hat, sagte es so: "Mir sind auch schon reguläre Tore aberkannt worden. Über die Saison gesehen kommt aber alles wieder zurück." In dem Moment, als Höller dies sagte, war Altachs Trainer Martin Scherb so fuchsteufelswild ("eklatante Fehlentscheidungen"), dass er wahrscheinlich sogar den Videobeweis gefordert hätte, mittels welchem dann der auf dem Platz längst schon geführte Wahrheitsbeweis durch den Filter einer zweiten Wirklichkeit auf den Prüfstand jener TV-Experten gestellt werden solle, die mit den – eine dritte Wirklichkeit schaffenden – Analysetools schon für Verwirrung genug sorgen.

Alois Höller war den Verteidigern bei seinem Tor gegen Altach einen Schritt voraus, er jubelte trotzdem enthusiastisch.
Foto: APA/Georg Hochmuth

Im Juni 1998 war Alois Höller neun Jahre alt. Damals spielte – Martin Scherb wird sich erinnern – Österreich bei der WM-Endrunde in Frankreich. Teamchef war ORF-Chefanalytiker Herbert Prohaska, Teamgoalie der Sky-Experte Michael Konsel.

Österreich spielte in der Gruppe B gegen Italien (1:2), Kamerun (1:1) und am 17. Juni in Saint-Étienne gegen Chile. Das Spiel endete nach einem Tor von Ivica Vastic in der 92. Minute mit 1:1. Aber eigentlich – praktisch, wie man in Österreich zu sagen pflegt – habe man 1:0 gewonnen.

Auf dem Platz stellte Chiles Marcelo Salas in der 70. Minute auf ein 1:0, das am Platz, an der Linie nicht weniger wie im Fernsehstudio, im Handumdrehen als "irregulär" erkannt worden ist. Befeuert von Michael Konsel ("Kein Tor, darauf kannst du Gift nehmen, der Ball war sicher nicht hinter der Linie") warf der ORF nicht nur jede verfügbare Zeitlupe und Superzeitlupe an, um der Tatsache des Torpfiffs den Schmuck des Wahren zu rauben – sondern sogar den dazumal allerneuesten, computergestützten ballesterischen Wahrheitsgenerator.

Virtual Replay

Es war dies ein Tool (damals nannte man das noch nicht Tool) namens Virtual Replay, ein definitiver Wahrheitschecker. Und mittels dieses Enttarners aller Lügenschiris erkannte auch Teamchef Prohaska, dass es zwar knapp war, sehr knapp ("Es könnte sein, dass der Ball zu sieben Achtel hinter der Torlinie war"), aber das heiße dennoch: kein Tor. Chiles Kapitän Iván Zamorano, dessen Kopfball Salas verwertet hatte, erwiderte: "Einen Meter war der Ball hinter der Linie, mindestens."

An der Linie stand damals allerdings – wie zum Beweis, dass die Wahrheit sich auch mit der Wirklichkeit zu verschränken vermag – nicht nur das wachelnde Adlerauge des ägyptischen Schiedsrichterteams, sondern auch der Reuters-Fotograf Pawel Kopczynski. Und während mithilfe des Virtual Replay ein ums andere Mal – und ein ums andere Mal erregter – dargelegt wurde, dass und wie sehr das kein Tor war und sein konnte, tickerte das Bild in die österreichischen Zeitungsredaktionen, wo es mit sehr großer Freude, um nicht zu sagen Genugtuung, auf die jeweilige Titelseite platziert wurde.

ORF-Sportchef war damals Elmar Oberhauser, sein Fußball-Souschef Hans Huber. Und beide räumten Analysetool-bezüglich ein: "Da kann es zu einer Computerstreuung von zehn Zentimetern kommen, das wissen wir."

Schuld und Stammtisch

In den Wahrheitsfindungen am Platz wird es das immer tun, ob computergestützt oder bloß meinungsstark am Stammtisch. Denn hier, in der dritten Halbzeit, geht es ja nicht darum, die Dinge zu nehmen, wie sie halt gekommen sind, sondern ihnen zusätzlich einen Sinn, eine Bedeutung zu geben. Und im Fall des Falles auch einen, der schuld daran hat und von dem es in jedem Fall gut wäre zu wissen, wo sein Auto steht.

Auf dem Platz ist das wurscht. Da passiert, was passiert, weil es passiert. Tor ist's, wenn's der Schiri pfeift. Der Schiri nimmt, der Schiri gibt. Das Pech, das du hast, kommt als Glück meistens wieder. Und wenn es dennoch hart auf hart kommt, sollte man sich – angesichts der theatralisch ehernen Einheit des Ortes, der Handlung und der Zeit erst recht – immer daran erinnern: Es geht eigentlich nur um Fußball. Und das ist, bei aller sonstigen Wahrheit, ganz gewiss die schlüssigste. (Wolfgang Weisgram, 3.6.2017)