Der Bundesadler im Nationalrat. Wie wird das Politische ohne Nationalstaat funktionieren?

Foto: Heribert Corn

Und wieder einmal ist es so weit: Dem guten alten Staat europäischer Provenienz wird der Totenschein ausgestellt ("Der Nationalstaat ist am Ende", Oliver Kühschelm im STANDARD vom 29. 5. 2017). Das passiert nicht zum ersten Mal, schon in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde dem liberalen parlamentarischen Staat von beiden Seiten des radikalen politischen Spektrums unter Hohngekreische die Lebensfähigkeit abgesprochen. Heute geht es nicht um Verhöhnung, sondern nur um nüchterne Leichenbeschau.

Todesursache?

Aber woran ist der Staat diesmal gestorben? Oder lebt er gar noch, zuckt immerhin ein wenig, nur will man sein Dahinsiechen nicht verraten und erklärt ihn schon für abwesend. Wäre er noch zu retten (gewesen) – bei gutem Personal, das richtige Diagnose mit richtiger Therapie zu verbinden wüsste?

Der da voreilig den "Staat" in die Motten- kiste der Geschichte verfrachten möchte, weil es ihm eigentlich um die Einmottung des "Nationalen" zu gehen scheint, weiß als Historiker eine Reihe von Unpässlichkeiten anzuführen, an denen der europäische Nationalstaat, wie spezifischer gesagt wird, seit längerer Zeit schon laboriert. Macht es einen Unterschied, ob vom Ende des Staates oder des Nationalstaates die Rede ist? Mitunter schon.

Welcher Staat wird uns präsentiert? Der Nationalstaat, zweifellos. Jenes Gebilde demnach, das auf den souveränen, europäischen Flächenstaat zurückgeht, wie er im 16. und 17. Jahrhundert wirksam wird und dessen Leistung vor allem in der Befriedung der damals vorherrschenden konfessionellen Bürgerkriege besteht: "Cuius regio, eius religio" – durch seine Autorität soll er die Konflikte seiner Bürger dadurch befrieden, dass er als Einziger entscheiden können soll, was Recht und Unrecht, was Gesetz und was gesetzloser Unfriede sind. Zur Nation wird der Staat, als der Landesvater vom Vaterland abgelöst werden musste, als Resultat des in die Geschichte getretenen Volkes, das nunmehr letzter legitimierender Angelpunkt aller staatlichen Autorität zu sein beanspruchte.

Das 19., nationalistische Jahrhundert ist die Epoche dieser sich verschärfenden Volksdifferenzen. Volkslegitimiert funktionieren sowohl Demokratie als auch Diktatur – da darf man sich nichts vormachen, die Ermächtigung politischer Gewalt durch das Volk und im Namen des Volkes kann als solches noch nicht den Ausweis des Gerechten und Guten für sich beanspruchen.

Viele Routen

Solcherart führt uns der Historiker – im 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert angelangt – die unselige Verquickung von nationalistischer Mobilisierung und imperialistischer Politik als eine der "Hauptrouten" der "Nation" vor – fraglich bleibt der Kurschluss von Imperialismus und Nationalstaat, der ja (auch das eine seiner "Routen" in der Geschichte) für Gesetz, Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Rechtsschutz und liberale Grundrechtsordnung steht!

Neben den nüchternen, unpersönlichen Regelungsmechanismen (gemeint sind wohl die Gesetze, Dreh- und Angelpunkt des modernen Staates) sieht er – gleichsam kompensatorisch – in der "Nation" die Rolle des emotionalen Kitts. Erst durch emotional aufgeladene Bilder, paraphrasiere ich den Autor und bin dabei ganz bei ihm, wird den Massenbewohnern der abgegrenzten Flächennationen ein jeweils einleuchtendes und gefühlsmäßig Sicherheit, Heimeligkeit und wohl auch Größe und Stolz und Bestand und Dauer vermittelndes Gemeinschaftsbewusstsein bereitgestellt. Ja, die historisch-politischen Ausformungen des Nationalstaates haben – in wechselnder Gewichtung dieser Elemente – in Verbindung von Kapitalismus, Staatsmacht und Nationenmythos tatsächlich allerlei versprechende, aber eben auch krause und krude Gestalten angenommen.

Aus, Schluss, finito!

Und an diesem Punkt ist für den Autor das Entwicklungspotenzial des Nationalstaates vollkommen ausgereizt. Nach der konservativ-bürgerlichen Variante des verfassungsmäßig parlamentarischen Staates – das liberale Korsett der sich entwickelnden Marktwirtschaft -, nach der radikalisierten Nation in Gestalt rassistischer Volks- und Vernichtungsgemeinschaften und schließlich nach dem sozialliberalen Wohlfahrtsstaat als Hüter und Versicherer klein- und großbürgerlicher Mittelständler in ihrer Hoffnung auf Wohlstand und Frieden – wir befinden uns an der letzten Jahrhundertwende -, sollte es keine Gestalt mehr geben, die der Nationalstaat europäischer Prägung noch annehmen könnte, um den gegenwärtigen und drohenden Gefahren und Problemen beizukommen. Aus, Schluss, finito!

Jeder Versuch, doch eine Form vorzustellen, wird als Erinnerungsbild nostalgischer Art betrachtet, weil er nur die glückselige Insel, die heimatlich verträglich verkleidete Moderne als "verflossene Seligkeit" beschwört. Ein gefährlicher Weg, wie man uns wissen lässt, weil sich hier besonders politischer Autoritarismus wohlfühlen und den unverdächtigen Österreich-Charmeoffensiven im Tourismusbereich seine unverschämten Offensiven autoritärer Politik beistellen kann.

Beschwören wir ja keine österreichische Nation, gar keine Nation, keinen Staat, er ist ja ohnehin schon fort. Auf der Höhe der Zeit analysierend ruft uns der Historiker – die veränderte Situation im Blick – zu, dass die nationalstaatlichen Ordnungsmuster ausgedient hätten und es neue "Integrationsformen" braucht, um Herausforderungen wie Migrationsströme, Klimawandel, soziale Ungleichheiten, Globalisierungsfolgen und neoliberale, sozialvergessene Aggressivität (auch: Terrorismus) bewältigen zu können.

Aber um welche neuen Integrationsformen kann es sich handeln? Kein Staat, aber was dann? Oder wurde der Staat nur versehentlich mit der "Nation" in die Gruft geworfen? Werden diese neuen Formen weniger borniert sein als der alte, wohlstandsgewandete Staat? Wird es sich um eine politische Form handeln? Wer wird darin handeln und entscheiden? Wird es keine Bürokratie mehr geben, oder werden die Bürokraten nur anders heißen? Wird es noch Grenzen geben, und wer wird deren Schutz oder Auflösung "begleiten". Wird es noch Politiker geben oder werden die nur anders benannt werden?

Trauriger Bundesadler

Wird womöglich überhaupt alles nur anders heißen, in Wirklichkeit aber alter Wein in neuen Schläuchen sein? Ich sehe – durchaus gegenwartsbewusst – kein Ende des (National-)Staates, aber ich sehe – unter den traurig wirkenden Augen des Bundesadlers – Leute (auch und gerade in hohen Staatsfunktionen) eifrig mit Schaufeln herumtraben, die hie und da im heimatlichen Erdreich herumstochern – was machen sie, graben sie Gräber?(Johannes Kresbach, 9.6.2017)