Wien – Der in künstlerischen Bindungen zu abrupten Brüchen neigende Christian Thielemann ist seit fünf Jahren fest und glücklich mit der Staatskapelle Dresden liiert. Doch der Dirigent musste in dieser Zeit einer alten Geliebten nicht entsagen: Jahr für Jahr zieht es ihn von der Elbe an die Donau, um mit den Wiener Philharmonikern in musikalischer Weise zu verschmelzen. Partnerschaftliches Glück gedeiht, wenn man dem andern seine Freiräume lässt.

Mit den Wienern teilt der 58-Jährige gewisse Neigungen, so etwa die Vorliebe für das romantische Repertoire. Gern wird es im Konzertprogramm mit einem zeitgenössischen Werk garniert, das dieses dann schmückt wie ein buntes Einstecktuch einen klassischen zweiteiligen Anzug. Beim vorletzten Philharmonischen Abonnementkonzert der Saison wurde das Einstecktuch vom virtuosen Klangcouturier Jörg Widmann entworfen, der Zweiteiler kam aus dem Hause Brahms.

Mit dessen Akademischer Festouvertüre wurde das Samstagnachmittagskonzert eröffnet. Das Werk wurde seinem Namen in keiner Weise gerecht:_Es klang nicht akademisch im Sinn von verkopft oder steif, sondern in wechselnder Folge gedämpft, albern, fein, zart, spannend, gruselig, überschwänglich, aber nie protzig. Eine feine, maßgeschneiderte Arbeit.

Spiegelkabinett der Klänge

Widmanns Flûte en suite für Flöte und Orchestergruppen (2011) entpuppte sich als hell-glitzerndes, bezauberndes Spiegelkabinett der Klänge zum Thema der barocken Suite. Der Deutsche arbeitet hier viel mit querflötennahen Klangfarben, mit Streicher-Flageoletts, Harfen- und Celestaklängen, und interpretiert die französischen Tänze in meist sehr freier Weise. Witzig der humoreske, fliehende Charakter der Courante, beeindruckend der zweite Choral, bei dem Widmann die Festlichkeit der Blechbläser ins Bombastisch-Brutale verzerrt.

Ein eingeschobenes venezianisches Gondellied weckte Assoziationen von blinkenden, blitzenden Wasserreflexionen. Nur der Schlusssatz befremdete mit seinen direkten Zitaten (von Bachs Badinerie aus dessen zweiter Orchestersuite) und wirkte wie ein eigentlich nicht nötiges Zugeständnis an altehrwürdige Hörgewohnheiten. Dieter Flury, der Soloflötist und ehemalige Geschäftsführer der Philharmoniker, interpretierte den Solopart des Werks mit beamtischer Sorgfalt und Nüchternheit; zum Ausgleich gab der Schweizer ein bedächtiges Pièce zu, das er in trunkener Tempofreiheit zu gestalten wusste.

Toll, wie nuanciert dann die vierte Symphonie von Johannes Brahms gestaltet war, packend auch das herbe Schwelgen und das dramatische Finale des Kopfsatzes, die unerbittlichen Schicksalsschläge im Andante moderato, die körperliche Wucht im Allegro giocoso. Thielemann switchte nach Bedarf zwischen akribischer Kontrolle und jovialer, swingender Lässigkeit hin und her: gut so. Schade nur, dass das er beim traumhaften lyrischen Thema im zweiten Satz die melodieführenden Celli nur zurückhaltend musizieren ließ und den umrankenden Floskeln der Violinen (dolce sempre) eine übergroße Bedeutung beimaß. Riesenjubel. (Stefan Ender, 11.6.2017)