Ein Monument für die Flora als beliebter Selfie-Hintergrund für die Fauna am nördlichsten Punkt der Documenta 14: Agnes Denes "The Living Pyramid" (2015/17).

Foto: Nils Klinger

Der Abgang zum Tramway-Bahnhof.

Foto: Roman Gerold

Nikhil Chopra bei der Arbeit ebendort.

Foto: Roman Gerold

Zu spannenden Momenten findet die Documenta 14 dort, wo sie sich, wie man so sagt, in den Stadtraum einschreibt. Etwa in der "Neuen Neuen Galerie", zu der ein ehemaliges Postzentrum Kassels für die Dauer der Großausstellung wird, aber auch im belebten Nordstadtpark, wo Agnes Denes eine bepflanzte Pyramide aufstellte. Neben einer alten Tofufabrik, in der Filme laufen, bleibt insbesondere aber auch der zum Kunstraum umfunktionierte, aufgelassene Tramway-Bahnhof unter dem Hauptbahnhof in Erinnerung.

Durch einen Container auf dem Bahnhofsvorplatz steigt man hinab in diese Unterwelt, in der die Rolltreppen ruhen und in der – Kunst, Vandalismus, Materialschwäche? – dem Wort Hauptbahnhof das P fehlt, so dass hier nur "Hautbahnhof" steht. Am Weg nach unten kommt man an einer Buntglas-Installation vorbei, die diesen Ort mitsamt seiner unbestimmten Zukunft auf eigentümliche Weise sakralisiert.

Auf dem Bahnsteig steht indes ein großes Zelt, das dem Künstler Nikhil Chopra (geb. 1974 in Kalkutta) gehört. Als Teil eines nomadisch angelegten Projekts, das nicht zuletzt um die Idee der Kunst als Heimat kreist, hatte Chopra in Athen die Wände einer Ex-Taverne mit einer Art "Höhlenmalerei" überzogen. Seine in Erdtönen gehaltenen Wandbilder verleihen nun auch dem Kasseler Hautbahnhof etwas Archaisches.

Strich für Strich

Im Mittelpunkt steht dabei eine Performance, für die Chopra den Bahnsteig entlang einen roten Streifen malt. Ein wenig fühlt man sich an Beppo Straßenkehrer aus Momo erinnert (Stichwort: Die Straße ist nicht lang, wenn man stets nur an den nächsten Besenstrich denkt), wenn Chopra mit einer kleinen Malerrolle den gut einen Meter breiten Streifen füllt. Ein poetisches, melancholisches, aber auch absurdes Bild: Wer wird hier noch eine Warnlinie zum Dahinter-Zurücktreten brauchen?

Vielleicht liegt es daran, dass keine Bahnhofsuhr, sondern einzig Chopras Tätigkeit hier den Takt vorgibt: Als Besucher stellt man fest, dass man an diesem Ort eher über die Verwerfungen in der Welt reflektieren mag denn anderswo in Kassel, wo dieses Nachdenken oft gar pessimistisch-unzweideutig forciert wird: Hier, in dieser Ruhe, wo die Steine unter den Schuhen knirschen, während man sich langsam daran gewöhnt, die Gleise zu überschreiten.

So gelungen ist die Neudeutung des Ortes, dass man, wenn man ihn entlang der Gleise verlässt, es einen Moment lang für möglich hält, nicht mehr in Kassel zu sein. Dass man in Athen gelandet ist, auf der "anderen" Documenta, jene Illusion könnte ein zu einer Installation Zafos Xagoraris’ gehöriges Banner befördern: "Xaipete!" sagt es – ein griechischer Gruß.

Es taucht dann eine Ecke weiter ein Wohnhaus auf, angesichts dessen man sich natürlich eh gleich wieder auskennt. Und abgesehen davon parkt hier auch ein VW-Van, den man fast für ein Signal der Selbstironie halten muss. Dass er nämlich dem Nomadenkünstler Chopra gehört, darauf verweist die Kreideaufschrift "Drawing a line through the landscape" auf dem Lack – der Titel seines Projekts. (Roman Gerold aus Kassel, 12.6.2017)