Vor zwanzig Jahren war alles besser. Zumindest sagt das eine Mehrheit von EU-Bürgern in Interviews einer Studie des Londoner Thinktanks Chatham House, die die Stimmung unter EU-Bürgern und Eliten abgefragt hat und dem STANDARD in Österreich vorab exklusiv zur Verfügung steht. Seit Jahrzehnten lässt sich bereits eine pessimistische Grundeinstellung der Bevölkerung beobachten, gemessen etwa in der Eurobarometerstudie des Jahres 1997.

Im Jahr 2017 treiben freilich ganz andere Themen die Europäische Union und ihre Bevölkerung um. Die Bürger sorgen sich wegen einer diffusen Terrorbedrohung, und auch die Fluchtbewegungen beherrschen Schlagzeilen wie Stammtische. Hinzu kommen die unklaren Auswirkungen eines Austritts Großbritanniens aus der Union. Die regierenden Politiker wiederum leiden an einer massiven Glaubwürdigkeitskrise, von der tendenziell populistische Anti-EU-Parteien profitieren. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Pro-EU-Stimmung, die etwa die Bewegung "Pulse of Europe" verkörpert, die ein vereintes Europa für eine gute Idee hält.

Europaweite Studie

Anknüpfend an diese komplexe Ausgangslage hat Chatham House in einer großangelegten Studie untersucht, wie es um das Projekt EU und dessen Zukunft in den Augen der sogenannten Eliten einerseits und der EU-Bevölkerung andererseits steht: Befragt wurden dafür "Eliten" – einflussreiche Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Medien und Zivilgesellschaft – sowie Bürgerinnen und Bürger aus zehn Staaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Österreich, Polen, Spanien, Ungarn und teilweise auch Großbritannien) zwischen Dezember 2016 und Februar 2017. Die Studie zeigt die gegensätzlichen Einstellungen von Eliten und übriger Bevölkerung zur Zukunft Europas, sie weist aber auch auf überraschende Einigkeiten hin – etwa in Sachen europäische Solidarität.

Zwar sagen beide Gruppen mehrheitlich, sie seien stolz darauf, Europäer zu sein, aber schon bei den größten Errungenschaften sind sich Elite und Bürger nicht mehr einig. Während die Eliten den anhaltenden Frieden als größte Leistung der EU sehen, schätzt die Bevölkerung den freien Personenverkehr am meisten. 14 Prozent der Nichteliten sagen sogar, dass die EU überhaupt keine Erfolge vorzuweisen habe. Der Umgang mit der Flüchtlingskrise ist für die Bürger der Bereich, in dem die EU am meisten versagt hat (sagen 22 Prozent), die überbordende Bürokratie nennen die Eliten als größten Misserfolg (36 Prozent). Insgesamt haben 71 Prozent der befragten Eliten das Gefühl, für sich einen Nutzen aus der EU-Integration zu ziehen, während nur 34 Prozent der Bürger so denken.

Themen Zuwanderung und Islam

Zuwanderung, insbesondere die Einstellung zum Islam, ist bei den Befragten ein höchst strittiger Themenbereich. Eine klare Mehrheit der Eliten hält Zuwanderung für ein Erfolgsrezept (57 Prozent), das die kulturelle Vielfalt in Europa bereichert habe (58 Prozent). Im Kontrast dazu die Tendenz in der Bevölkerung, die Zuwanderung eher negativ sieht. Eine Mehrheit von 55 Prozent der Befragten hält Zuwanderer für eine Belastung für den Sozialstaat, in Österreich sind es sogar 69 Prozent – der höchste Wert unter den Bürgern in den befragten Staaten. Auch auf die Frage, ob durch Einwanderer die Kriminalität steigt, stimmen 66 Prozent der österreichischen Bürger zu, während es im Durchschnitt nur etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind. Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, erklärt das auch mit einer diffusen Sorge in Österreich, bei der die Themen Zuwanderung und Flüchtlingskrise vermengt werden. Auch Deutschland sei beispielsweise von den Fluchtbewegungen überproportional betroffen gewesen, die politische Kommunikation im Nachbarland sei aber klarer gewesen.

In der Flüchtlingsfrage unterstützen europaweit knapp die Hälfte der befragten Bevölkerung und 63 Prozent der Eliten eine Aufteilung der Flüchtlinge über Quoten, während 24 Prozent der Bevölkerung und zehn Prozent der Eliten gar keine Flüchtlinge aufnehmen wollen.

Im Schatten der Diskussionen über den Einreisestopp für Muslime von US-Präsident Donald Trump fragten auch die Studienautoren nach der Einstellung zum Islam. 55 Prozent der befragten Bürger halten die europäische und die muslimische Lebensweise für inkompatibel (35 Prozent der Eliten). Der Aussage "Jede weitere Zuwanderung aus mehrheitlich muslimischen Ländern sollte gestoppt werden" stimmten 56 Prozent der Bevölkerung zu (32 Prozent der Eliten). Auch hier lag die Zustimmung unter den befragten österreichischen Bürgern mit 65 Prozent deutlich über dem Durchschnitt. Besonders bei eher autoritär eingestellten Befragten – jenen, die auch eine Einführung der Todesstrafe befürworten – zeigte sich aber auch europaweit eine eindeutige Tendenz für ein Verbot (84 Prozent). Allerdings lässt sich aus der Fragestellung nicht ableiten, ob man der Aufnahme muslimischer Flüchtlinge genauso negativ gegenüberstünde.

Derzeit wird vor allem in den USA heftig über Trumps Dekret diskutiert, das Bürgern aus sechs mehrheitlich muslimischen Ländern die Einreise verweigern würde. Dort hat sich allerdings durch mehrere Gerichtsentscheide gezeigt, dass es rechtlich wohl nicht haltbar wäre.

Offener gibt sich eine Mehrheit der Befragten, was die Ehe für alle betrifft. 56 Prozent der EU-Bürger (64 Prozent in Österreich) und 70 Prozent der Eliten halten das für eine gute Idee.

Keine klare Linie zur Zukunft der EU

Als besonders signifikant bezeichnet Thomas Raines, einer der Studienautoren, die Tatsache, dass weder Eliten noch Bürger eine klare Vorstellung davon haben, wie es mit der EU weitergehen soll. Zwar ist man sich weitgehend einig, dass die Solidarität innerhalb der Union eine große Rolle spielt – so unterstützen die Aussage, dass reiche Mitgliedsstaaten ärmeren helfen sollen, 77 Prozent der Eliten und 50 Prozent der Bürger. Von den Eliten sagten allerdings 41 Prozent, die Erweiterung gehe ihnen zu weit, 44 Prozent geht sie noch nicht weit genug. Den Bürgern geht die Erweiterung eindeutig zu schnell (47 Prozent gegenüber 22 Prozent, die sich mehr vorstellen könnten).

36 Prozent sind gegen weitere Beitritte, 34 Prozent sind dafür, und 31 Prozent stehen neuen Beitritten neutral gegenüber. Bei der Elite spricht sich mit 58 Prozent eine deutliche Mehrheit für neue Mitglieder aus. Die Türkei ist damit aber offenbar nicht gemeint: Die Befürwortung eines Türkei-Beitritts liegt sowohl bei Elite als auch Bürgern ähnlich niedrig – nur bei sechs beziehungsweise fünf Prozent.

Fünf Zukunftsszenarien unterschiedlich bewertet

Auch an der konkreten zukünftigen Ausgestaltung der EU-Politik spalten sich die Geister. Im März hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das "Weißbuch zur Zukunft Europas" präsentiert, in dem fünf Szenarien gezeichnet werden, wie sich die EU mit 27 Mitgliedern nach dem Brexit bis 2025 entwickeln könnte – aus der nun veröffentlichten Studie lässt sich teilweise ableiten, wie Eliten und Bürger aus den befragten Mitgliedsstaaten zu den unterschiedlichen Varianten stehen.

Szenario 1 wäre die Fortsetzung schrittweiser Reformen wie bisher, etwa im Energie- wie im Digitalbereich, ohne große Sprünge. Allerdings zeigt sich in der Studie, dass es für die Beibehaltung des Status quo in keinem der Länder, weder unter Eliten noch unter Bürgern, eine Mehrheit gibt.

In Szenario 2 würde man darauf setzen, dass die EU-27 sich ohne weitere Vertiefung auf den Binnenmarkt reduziert. In anderen Bereichen, etwa Außen- und Sicherheitspolitik, würde es eher in Richtung bilaterale Kooperationen gehen. In dem Szenario wird es zwar nicht explizit so bezeichnet, aber de facto würde das wohl eine Reduktion der EU-Befugnisse bedeuten – was auch die Mehrheit der befragten Bürger unterstützen würde. 48 Prozent sprachen sich dafür aus, den Mitgliedsstaaten wieder mehr Macht zu geben. Bei den Eliten sind es 31 Prozent.

Verstärkte Integration

Szenario 3 beschreibt ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die Staaten eines "Kerneuropa" könnten sich an deutlich mehr politischer Integration beteiligen, müssen das aber nicht. Jedes EU-Land könne später zur "Kerngruppe" dazustoßen. Das entspricht durchaus der Meinung der Mehrheit der befragten Eliten, die dafür plädiert, dass die europäische Integration voranschreitet. Allerdings geht man bei dieser Variante davon aus, dass der Wunsch nach mehr Integration sich von Land zu Land unterscheidet – und nicht von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe, wie es in der Studie deutlich wird.

In Szenario 4 würde die EU-Kompetenz auf wenige Bereiche beschnitten (etwa Migration, Handel, Sicherheit und Verteidigung), mit klareren Abgrenzungen zu nationalen Regeln. In den betroffenen Bereichen würde die Kooperation enger werden – in den anderen wäre sie allerdings stark eingeschränkt, etwa Gesundheits- und Sozialpolitik. Die Studienautoren beschreiben diese Variante als die innovativste, da es dabei nicht um mehr oder weniger Europa gehen würde. Allerdings lässt sich hier aus den Befragungen keine Tendenz der Bevölkerung und Eliten ableiten.

Szenario 5 würde die Verwirklichung der "alten" Ziele von Rom bedeuten: Integration, die weit über die Wirtschaft hinausgeht, also EU-weite Regelungen und entsprechend bei EU-Institutionen einklagbare Rechte für die Bürger. Allerdings äußerten sich zur Idee der "Vereinigten Staaten von Europa" mit einer zentralen Regierung bei den befragten Bürgern 41 Prozent, bei den Eliten 47 Prozent ablehnend – die befragten österreichischen Bürger zeigten hier eine noch deutlichere Ablehnung von 65 Prozent. Zustimmung signalisierten in der Frage 30 Prozent der EU-Bevölkerung und 40 Prozent der Eliten. Zudem würde diese Variante wohl eine Ausweitung der EU-Befugnisse bedeuten, was zwar 37 Prozent der befragten Eliten befürworten, aber nur 24 Prozent der Bürger.

"Im Wissen um diese Uneinigkeit die zukünftige Strategie vorzugeben ist für die handelnden Politiker eine große Herausforderung", lautet die Conclusio des Studienautors Raines: Die EU müsse deshalb dringend ihre politische Legitimität zurückgewinnen. (Manuela Honsig-Erlenburg, Noura Maan, Markus Hametner, 20.6.2017)