Szczerek: "Wer nach Osteuropa reist, der säuft halt. Man erfüllt die Stereotype, die einem im Kopf hängen. Mit der Sauferei wird man – in der Vorstellung – zum Hardcore-Osteuropäer."

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Ziemowit Szczerek, "Mordor kommt und frisst uns auf". Übersetzt von Thomas Weiler. € 20 / 240 Seiten. Voland & Quist 2017

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Er spricht schnell, dabei entspinnt er Gedankenfaden um Gedankenfaden, die er immer wieder zu originellen Ideen verspinnt. Ziemowit Szczerek, 1978 geboren, gehört zu den interessantesten Stimmen der jungen polnischen Literatur. Für seinen Roman Mordor kommt und frisst uns auf (Voland & Quist), der die Geschichte einer wilden Reise durch die Ukraine erzählt, erhielt er den "Paszport Polityki". Zudem ist er für den Internationalen Literaturpreis nominiert, der am 6. Juli in Berlin vergeben wird. Im Moment befindet sich Szczerek mit einem Stipendium in Bratislava.

STANDARD: Der Held Ihres Romans Lukasz lebt wie Sie in Krakau. Ist er eine Art Alter Ego?

Szczerek: Lukasz ist in keiner Weise mein Alter Ego, er ist Journalist. Und in dieser Rolle ist er ein Lügner, weil er nationale Stereotype verkauft und damit eine gewisse Vorstellung bedient. Er weiß, dass sich Stereotype besser verkaufen als differenzierte Betrachtungsweisen. Deswegen presst er alles, was er sieht und hört, in ein vorgefertigtes Klischeeschema.

STANDARD: In Kapitel acht offenbart er sich als Gonzo-Journalist.

Szczerek: Er benutzt den Gonzo-Journalismus, den ich als Genre nicht wirklich bewundere, um eine Erzählung zu schaffen, die nicht aufklärt, sondern die bestimmte Vorurteile zementiert und sie damit noch gefährlicher macht. Es wird eben nur gesoffen in der Ukraine. Alle sind korrupt. Die Städte sind öde, grau und hässlich. Er weiß, wie seine polnischen Leser über das Leben in der Ukraine denken – und genau dieses Denken und die Schadenfreude bedient er. Das tut er mit einem rauen Humor und mit einer schroffen Sprache. Man kann mit einem Messer eben ein Brot schneiden. Man kann mit einem Messer aber auch töten. So ist es auch mit Stereotypen.

STANDARD: Polen hat eine gemeinsame Geschichte mit der Ukraine und auch mit Teilen des heutigen Belarus. Da müsste es doch eigentlich ein größeres Interesse an diesen Ländern geben.

Szczerek: Wir sind zwar geografisch, mental und historisch näher an dem, was in der Ukraine oder in Belarus passiert. Und es gibt auch einen bestimmten Kreis von Leuten, der in Bezug auf Osteuropa sehr aktiv ist. Aber fragen Sie mal einen Hipster aus Warschau oder einen Mittelständler aus Danzig. Einer der Gründe für diese Ignoranz hat mit der alten Grenze zwischen der Sowjetunion und Polen zu tun, die sehr streng bewacht wurde und Kontakte zwischen den beiden kommunistischen Ländern fast unmöglich machte. Diese Grenze hat sich in den Köpfen sehr gut erhalten. Und es ist ja auch heute nicht so leicht, mal kurz nach Belarus zu fahren, weil man eben ein Visum braucht. Auf der anderen Seite in Görlitz kann man einfach über die Brücke spazieren – und schon ist man in Deutschland.

STANDARD: In Ihrem Buch fahren Polen in die Ukraine, um das alte Galizien zu besuchen. Wie sieht es in der Realität aus?

Szczerek: Es sind vor allem ältere Polen, die sich in Belarus oder in Litauen Städte wie Hrodna oder Vilnius anschauen. Dies betrifft auch Lwiw, das als Mythos eine starke Bedeutung für unsere Kultur hat. Aber gerade in der postsowjetischen Generation Polens gibt es diese Hassliebe gegenüber der Ukraine. Einerseits ist man abgestoßen von diesen "kulturlosen", "korrupten" und "autokratischen" Strukturen, andererseits ist man von ihnen fasziniert, weil sie ja auch irgendwie Teil des Eigenen sind. Diese Beziehungen sind sehr komplex, so wie auch in Bezug auf die Ukraine und Belarus beispielsweise. Nach dem Euromaidan, der einen antiautoritären und demokratischen Protest darstellte, hat man unter Ukrainern eine Umfrage durchgeführt. Man wollte wissen, wer ihrer Meinung nach der beste Politiker sei. Und auf einem der vorderen Plätze landete der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko, ein Diktator. Auch darin spiegelt sich diese seltsame Widersprüchlichkeit, die in gewisser Weise typisch für Zentraleuropa ist.

STANDARD: Wenn man also wie Polen in Zentraleuropa liegt, stellt sich die Bestimmung der West-Zugehörigkeit also als sehr komplex dar?

Szczerek: In meinem Buch geht es im Wesentlichen um die Dichotomie von West und Ost. Die trifft ja nicht nur auf die Beziehung zwischen Polen und Ukrainern zu, sondern sie ist ein europäisches Phänomen. Die Deutschen halten die Ostdeutschen für schlimm. Die Ostdeutschen sind der Meinung, dass die Polen Barbaren sind. Die Polen wiederum verorten das Böse in der Ukraine oder in Russland. Es gibt also immer einen Osten, der noch dunkler, noch gefährlicher, noch böser ist.

STANDARD: Auch im Titel taucht "Mordor" auf, im "Herr der Ringe" das Reich des Bösen. Wie sind Sie darauf gekommen?

Szczerek: Diesen West-Ost-Gegensatz findet man ja nicht nur bei Tolkien, sondern ebenso in der Conan-Reihe von Robert E. Howard. Auch in Game of Thrones gibt es Westeros im Westen, die Heimat der "Sieben Königreiche". Im Osten, getrennt von einem Meer, liegt Essos. Dort herrschen die "Freien Städte" mit ihren mysteriösen und barbarisch anmutenden Riten, und es ist die Heimat des Nomaden- und Kriegsvolkes der Dothraki, die mit ihren Pferden die Steppen beherrschen. Interessant dagegen ist die fantastische Welt des polnischen Autors Andrzej Sapkowski, der die Geschichte um den "Witcher" erschaffen hat. Er positioniert seinen Westen aus der Sichtweise der Polen in die Welt der Slawen. Zurück zum Beginn der eigentlichen Idee. Wir halten uns für Kinder des Westens, oder mit Tolkien zu sprechen: In den vergangenen Jahren sind wir immer mehr zu Mittelerde geworden. Aber wenn wir uns ein bisschen umschauen, dann liegt Mordor immer noch bedrohlich nah vor unserer Haustür. Und deswegen ist uns manchmal nicht ganz klar, wozu wir gehören – schließlich sind wir für manche im Westen ja auch Mordor.

STANDARD: Und da kommt schließlich jemand wie Lukasz, der auf die Unsicherheit der Zugehörigkeit eine vermeintliche Gewissheit gibt.

Szczerek: Der Erzähler schert sich ja nicht um die Wahrheit. Welche Auswirkungen das haben kann, das ist das unterschwellige Thema des Buches. Und auch das bezieht sich nicht nur auf Polen und auf die Ukraine. Egal, wo man in der Welt ist, es gibt immer jemanden, der schlimmer ist. Die Engländer meinen, dass die Schotten Schafe ficken. Die Schotten wiederum meinen, dass die Waliser Schafe ficken, und so weiter und so weiter. Das ist lächerlich. Wir wissen es ja eigentlich besser. Also sollten wir gegen eine Stereotypisierung arbeiten und nicht dafür.

STANDARD: Warum sind Sie zum ersten Mail in die Ukraine gereist?

Szczerek: Weil ich den postsowjetischen Raum erkunden wollte. Mich interessierte es nicht, irgendwas Polnisches dort zu finden. Die Geschichten von den sogenannten "verlorenen Gebieten", sprich von Galizien, hatte ich seit meiner Kindheit gehört. Und das hatte ich wirklich über. Denn diese Geschichten wurden auf eine spirituelle Ebene gehoben, die ich befremdlich fand. Dasselbe ist ja mit Vilnius passiert, das die Polen für eine krasse heilige Stadt der polnischen Kultur halten. Solche Mythologisierungen machen es schwer, die Realität zu sehen. Und ich nehme mich da gar nicht aus. Schließlich war ich überrascht, dass Lwiw überhaupt noch existierte. Der Mythos des Verlustes war so überwältigend und so tief in mir verankert, dass ich komplett hin und weg war, als ich die Stadt mit eigenen Augen sah.

STANDARD: Der Blick in die Vergangenheit spielt eine starke Rolle in Polen. Woher kommt dieser sehnsüchtige Blick zurück?

Szczerek: Es gibt unter Polen ein stark ausgeprägtes Gefühl, das besagt, dass wir heute nicht mehr das haben, was wir in der Vergangenheit hatten. Das hat sicherlich mit unserer Geschichte als multinationaler Herrschaftsverband während der polnisch-litauischen Adelsrepublik zu tun. Deswegen schreien bei uns auch einige, die PiS unterstützen, irgendwas von der polnischen Großartigkeit und davon, dass der Westen uns kleinhält, dass er uns aber unterstützen soll. Das ist ein sehr kindisches Geschreie, wie ich finde. Und es ähnelt dem Geschrei, das aus Russland kommt. Für den Westen sind wir wohl eines dieser ungezogenen Bastardkinder. Ich befürchte, dass sich so unsere Lage am Rande der Peripherie des Westens ausdrückt, dessen Zentrum irgendwo zwischen London, Paris, dem Ruhrgebiet und Mailand liegt.

STANDARD: Ihr Held Lukasz schüttet sich mit einem Potenzmittel aus der Apotheke zu, das sich Vigor-Balsam nennt. Überhaupt wird in Ihrem Buch ordentlich gesoffen. Und jedem, der durch Osteuropa reist, fällt auf, dass auch Reisende aus dem Westen ordentlich zulangen, wenn es um Alkoholisches geht. Ist das eine Art Überidentifizierung?

Szczerek: Wenn man nach Italien reist, hängen die Reisenden ja auch auf der Piazza herum, genießen die südländische Lebensart und die tolle Pasta. Wer nach Osteuropa reist, der säuft halt. Man erfüllt also die Stereotype, die einem im Kopf hängen. Mit der Sauferei wird man – in der Vorstellung der Reisenden – zum richtigen Hardcore-Osteuropäer. Und hier kommen wir wieder zu den Stereotypen. Ich habe nichts gegen sie. Man kann toll mit ihnen spielen. Aber man kann sie eben richtig oder falsch benutzen. Und ich bin dagegen, sie falsch zu benutzen. (Ingo Petz, 17.6.2017)