Tuschezeichnungen aus "Ungewisses Manifest 2": Walter Benjamin und Gretel Karplus, verheiratete Adorno, die den Philosophen mit Geld unterstützte. Die beiden verband eine komplizierte Geschichte.

Foto: Pajak

Ebenso im Buch: Pariser Impressionen...

Foto: Pajak
Foto: Pajak

Frédéric Pajak, "Ungewisses Manifest 2". Aus dem Französischen von Ruth Gantert. € 35,00 / 224 Seiten. Edition Clandestin, Biel 2017

Foto: Pajak

Es begann mit dem Traum von einem Buch, "das Wörter und Bilder vereint. Abenteuerfolgen, zusammengetragene Erinnerungen, Sprüche, Gespenster, vergessene Helden, das tobende Meer", schreibt Frédéric Pajak im ersten Band seines Ungewissen Manifestes, der seit dem vergangenen Jahr auf Deutsch vorliegt. Zunächst sollte es sich jedoch für lange Zeit um einen scheinbar unrealisierbaren Traum handeln – und einen Traum, den der französische Zeichner und Autor nicht aufgab.

Die Verlage, denen Pajak seine diverse Textformen wie Essay, Journal, Reisetagebuch, kulturgeschichtliche Abhandlung und Kampfschrift amalgamierenden Bücher anbot, die er mit kontraststarken Tuschezeichnungen um eine assoziative Bildebene ergänzt, meinten alle das Gleiche: nicht kommerziell genug. Jahrelang hielt sich der 1955 als Sohn eines Polen und einer Französin in der Nähe von Paris geborene Künstler, der seine Jugend in Lausanne verbrachte und auch die schweizerische Staatsbürgerschaft besitzt, daher finanziell mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er war Liegewagenschaffner, putzte das Innere von Öltanks, entsorgte Tierkadaver.

Mit 40 schaffte es der Vielgereiste und Vielherumgetriebene schließlich doch, sein erstes Buch zu publizieren. Ohne Resonanz. Weitere folgten, und plötzlich gelang Pajak 1999 mit dem Band L'immense solitude ("Ungeheure Einsamkeit"), einem Buch über Nietzsche und Cesare Pavese, der Durchbruch. Mittlerweile verfügt der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Künstler in Frankreich über einen Kultstatus, der im Herbst, wenn Frankreich Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, auf den deutschsprachigen Raum übergreifen könnte.

Ein unbestimmtes Gefühl

Es ist eine eigenwillige Mischung aus Text und Bild, die das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen vereint und in die Vergangenheit ebenso blendet wie in die Gegenwart und eine mögliche Zukunft, auf die der Leser und Betrachter in Pajaks Büchern stößt. Wobei es sich dabei nicht um illustrierte Bücher im üblichen Sinn handelt, um Graphic Novels erst recht nicht. Am ehesten illustrieren die Zeichnungen "ein unbestimmtes Gefühl". Pajaks Welt ist eine Welt der Dahergelaufenen, Abgehängten, an den Rand Gedrängten – und es ist eine Welt der Kunst. Fast immer sind die "Helden" seines Manifests bekannte oder weniger bekannte Künstler, die gegen etwas (oft sich selbst) kämpfen und kompromisslos für etwas einstehen.

Wo der erste Band des auf neun Teile angelegten Manifests endet, setzt nun der zweite, seit kurzem auf Deutsch vorliegende Band fort. Wieder befinden wir uns in einem Strang des Buches im Paris der 1930er-Jahre, wieder treffen wir auf Walter Benjamin und mit Pajak auf einen exzellenten Kenner des Werks des deutschen Emigranten, der mittellos, zunehmend isoliert, von den Entwicklungen in Deutschland und Spanien schockiert am Passagen-Werk arbeitet. Seine Position ist laut Pajak die des Wächters einer "nicht aufgedeckten Geschichte, deren Gegenwart der Vergangenheit der Besiegten geschuldet ist. Seine vom Messianismus geprägte Botschaft ist kompromisslos: Die Sprache, welche die Barbarei bekämpft, darf nichts von der barbarischen Sprache übernehmen, nichts von der Sprache der Propaganda – jeglicher Propaganda."

Hohl, Breton, Gribouille

Waren in den ersten Band des Manifests kleine Porträts von Beckett, Bram van Velde und Ernst Toller eingearbeitet, befasst sich Pajak im zweiten Teil unter anderem mit der Pariser Zeit des Schweizer Autors Ludwig Hohl, der dem verhassten Heimatland, in dem er später viele Jahre in einem Genfer Keller schreibend verbringen sollte, zu entkommen versucht. Ein Kapitel ist der nur zehn Tage währenden Liebesgeschichte zwischen André Breton und Léona Delacourt im Jahr 1926 gewidmet, die den "Papst der Surrealisten" zum Roman Nadja inspirierte. Eine weitere nur auf den ersten Blick schwache Frau und eine Unbekannte lässt sich in den Passagen über die Sängerin Gribouille entdecken. Es lohnt sich, das eine oder andere ihrer Chansons auf Youtube nachzuhören.

Stets drängt aber auch die Gegenwart in das Manifest, etwa wenn Pajak einen Besuch im Berliner Benjamin-Archiv schildert, über Edward Hopper nachdenkt oder mit den gesellschaftlichen und architektonischen Veränderungen in Paris ins Gericht geht, die er an der Schleifung und dem Neubau von "Les Halles" reflektiert: "Man ließ die Mörder der Stadt machen, die Baufirmen und ihre Komplizen, Stadtplaner und Architekten, und ihre Aushängeschilder, Präfekten, Bürgermeister und bis zu den Präsidenten der Republik – Paris ist eine Staatsaffäre."

Es ist viel Erinnerung, Einsamkeit und Verlorenes in diesem Manifest des Ungewissen. Und viel Zeitgenossenschaft. Benjamins "Engel der Geschichte", dessen rückwärtsgewandter Blick auf einem Trümmerfeld ruht, erkennt im Ruinenfeld ein Erlösungsversprechen und den Schlüssel zu einem Traum. Paris, so Pajak, hat es mit Benjamin, der die Stadt so sehr liebte, nicht gut gemeint: "Und dennoch bleibt sein Name mit der Stadt verbunden", und zwar in dem, was Paris noch immer besitzt, einen Instinkt für Utopien. (Stefan Gmünder, 18.6.2017)