Mit dem Islam ist es so eine Sache – genauer: mit der Art, wie wir heute in gesellschaftlichen Debatten, künstlerischen Produktionen und wissenschaftlichen Texten mit ihm umgehen. Ein Umgang der dem Alles-oder-Nichts-Prinzip zu folgen scheint.

"Der Islam braucht eine sexuelle Revolution"

So auch die deutsch-türkische Feministin Seyran Ates: Ihr Buch "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" ist ein mutiges Plädoyer, das der Sehnsucht vieler junger Menschen in islamisch geprägten Gesellschaften nach all dem, was sie mit dem Begriff "sexuelle Revolution" verbinden, eine Stimme verleiht. "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" könnte als Beleg für die universelle Gültigkeit moderner Errungenschaften wie Religions-, Meinungs-, Gewissensfreiheit und eben auch der Freiheit von sexueller Bevormundung gelesen werden – würde es nicht schon im theoretischen Ansatz scheitern. Und zwar gründlich.

"Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" beruft sich auf das Werk "Die sexuelle Revolution" des Freud-Schülers und Psychoanalyse-Dissidenten Wilhelm Reich. Für Reich und für Freud lagen die Ursachen für das von ihnen kritisierte sexuelle Elend in gesellschaftlich bedingten psychischen Faktoren. Der Religion schrieben sie in diesem Zusammenhang die Rolle eines krankmachenden Faktors zu. Weit davon entfernt diesen Faktor reformieren oder "revolutionieren" zu wollen, lehnten sie Religion in jeder Form ab. Der Gedanke, eine sexuelle Revolution "im Christentum" veranstalten zu wollen, wäre ihnen mehr als absurd vorgekommen.

Seyran Ates im Gebetsraum einer Moschee in Berlin.
Foto: APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

Wenn nun Ates – im Unterschied zu Reich und zu Freud – nicht für eine sexuelle Revolution in Gesellschaften mit islamischer Mehrheit plädiert, sondern ausdrücklich für eine Revolution im Islam, verneint sie implizit die Möglichkeit, dass in jenen Gesellschaften außerhalb der Sphäre des Islam so etwas wie "Gesellschaft" überhaupt existiert. Zwischen der Gesellschaft in islamisch geprägten Ländern und dem Islam besteht für Ates offenbar "volle Identität": Als existierte in jenen Gesellschaften nichts außerhalb des Islam – nicht einmal auf begrifflicher Ebene.

Alles – oder Nichts

Folgt "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" dem "Alles" in jenem Alles-oder-Nichts-Prinzip, das aktuelle Diskurse über den Islam charakterisiert, scheint der jüngst angelaufene österreichische Film "Die Migrantigen"  des Regisseurs Arman T. Riahi offenbar dem "Nichts" verpflichtet zu sein: So nimmt ein Film, in dem es um Migranten und mit Migranten assoziierte Klischees geht, jenen die aktuellen Migrations- und Identitätsdebatten beherrschenden Begriff "Islam" beziehungsweise "Muslime" kein einziges Mal in den Mund. Mehr noch: Von einer Szene, in der das Wort "halal" fällt, abgesehen – ein Begriff den manch ein Outsider mit dem Islam gar nicht in Verbindung bringen mag – verweigern "Die Migrantigen" auch jede verbale Anspielung auf den Islam.

Es gibt keine "Ausländer" mehr

Das verwundert. Ein im Wien des Jahres 2017 spielender Film über Migranten, der das Thema "Islam" systematisch ausspart, hat für aktuelle Debatten die gleiche Relevanz wie ein Film über die US-Politik des Jahres 2017, der Donald Trump ignoriert, und so tut, als hieße der Präsident der USA Barack Obama. Oder besser: Bill Clinton, Präsident der Vereinigten Staaten in den Neunziger Jahren. Jene Neunziger Jahre, deren Diskurs in "Die Migrantigen" ständig begegnet. Und in denen der Begriff "Ausländer" noch fester Bestandteil politischer Debatten in Österreich war. Wir erinnern uns: 1993 veranstaltete die FPÖ ein "Anti-Ausländer-Volksbegehren", das von mehr als 400.000 Menschen unterzeichnet wurde – die offizielle Bezeichnung "Österreich zuerst" war und ist den wenigsten bekannt. Einen solchen Diskurs würde die FPÖ heute auf keinen Fall wieder führen. "Früher" so die pointiert-übertriebene Diagnose eines Freundes, "gab es 'Ausländer'. Heute gibt es keine 'Ausländer' mehr – es gibt nur mehr 'Muslime'."

Kollektives Individuum "Islam"

Bis in die 1990er-Jahre hinein behauptete der rassistische Diskurs in Österreich und in Deutschland, die Türken würden "uns" Probleme bereiten – weil sie eben Türken seien. Heute – nach dem Erstarken des sogenannten politischen Islam und nach 9/11 – behauptet der neue rassistische Diskurs, die Türken, die Araber, die Nordafrikaner et cetera. würden "uns" Probleme bereiten – weil sie Muslime seien. 

In diesem heute dominierenden Diskurs der "vollen Identität" wird der Islam nicht mehr bloß als ein Glaubensbekenntnis betrachtet, zu dem sich Menschen bekennen können oder auch nicht. Die Zugehörigkeit zum Islam wird vielmehr – im Falle von Türken, Arabern, Iranern ... – als eine Art Naturtatsache gesehen – und Türken, Araber, Iraner ... als "Naturmoslems".

Diese Ideologie der "vollen Identifizierung" von Individuen aus bestimmten Gesellschaften mit dem "Islam" wird aber nicht bloß von Rassisten, sondern auch von der Mehrheit der weltoffenen und wohlmeinenden Gegner der rassistischen Hetze geteilt. Auch sie subsummieren Menschen aus islamisch geprägten Gesellschaften unterschiedslos unter dem Islam oder der "islamischen Kultur". Und eliminieren sie als Individuen aus gesellschaftlichen Debatten. Die Stelle der eliminierten Individuen nimmt dann "der Islam selbst" ein, der als eine Art kollektives Individuum imaginiert wird, dem dann, wie einer real existierenden Person, Menschenrechte und Schutz zugestanden werden – obwohl Menschenrechte Individualrechte sind. Konsequenterweise werden dann kritische Äußerungen über ein Glaubensbekenntnis – oder die Ablehnung eines Glaubensbekenntnisses – als "rassistisch" empfunden. Rassistisch ist aber genau diese falsche weil fixe Verknüpfung zwischen Individuen aus bestimmten Gesellschaften und dem Islam. Und nicht die Kritik an einer – oder die Ablehnung einer – Glaubenslehre.

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Das unausgeschöpfte Potential der Komödie

Um Identitätskonstruktionen dieser und anderer Art zu brechen, wäre nun die Komödie – und "Die Migrantigen“ will eine Komödie sein – das ideale Medium –  während in der Logik der Tragödie die "wahre Identität" gegen den äußeren Anschein in Stellung gebracht wird und auf tragische Weise recht behält. In der Vorgeschichte der Tragödie des Sophokles, "König Ödipus", tötet letzterer im Streit mit einem Wagenlenker dessen Passagier, der ihm – dem äußeren Anschein nach – fremd ist. In Wahrheit handelt es sich bei jenem Fremden aber um Ödipus’ leiblichen Vater. Indem Ödipus die wahre Identität jenes Fremden verkennt, nimmt die Tragödie ihren – unaufhaltsamen – Lauf. Dieser Vorrang der "wahren Identität", als der "inneren Wahrheit", vor dem äußeren Anschein entspricht auch unseren alltäglichen Intuitionen.

Anders die Komödie, die unser Alltagsbewusstsein dekonstruiert, indem sie es auf den Kopf stellt. Nicht unser "authentisches" Innenleben, unsere Gedanken und Gefühle sind dort bestimmend. Sondern der äußere Schein. Das, was wir anderen vorspielen. In der Liebeskomödie "Green Card" von 1990 zum Beispiel spielt Gérard Depardieu einen Komponisten, der, um seinen Aufenthalt in den USA zu sichern, eine Scheinehe mit einer US-Amerikanerin eingeht. Aus dem Spiel wird ernst – wie nicht anders zu erwarten, verlieben sich die Beiden am Ende tatsächlich. Was wir spielen und anderen vorspielen, beeinflusst, bestimmt und konstituiert unser Innerstes – sprich unsere "Identität".

Gerade diesen befreienden Einspruch der Komödie gegen das Konstrukt "Identität" hätte der Film gegen jene – die aktuellen Debatten beherrschende – Identitätskonstruktionen in Sachen Islam in Stellung bringen können.

Dass er es nicht tut, und es vorzieht, am Islam gar nicht anzustreifen, fügt sich in die erwähnte Logik des Alles-oder-Nichts: Gerade weil heute auch Wohlmeinende und Weltoffene, ohne es zu bemerken, jener Ideologie der "vollen Identität" von Individuen aus bestimmten Gesellschaften mit dem Islam verhaftet sind, erscheint ihnen jedes Thematisieren des Islam – zumal mit den Mitteln der Komödie – als Minenfeld. Und Minenfelder sollte man meiden.

Dass es nicht nur notwendig sondern auch möglich ist, sich dem Islam mit den Mitteln der Komödie zu nähern, zeigen – um zwei Beispiele zu nennen – der streckenweise wunderbar-komische Dokumentarfilm "Exile Family Movie" (2007) von Arash Riahi, der Bruder des Regisseurs von "Die Migrantigen". Und der nicht minder köstliche satirische Roman "East of Wimbledon" des Autors Nigel Williams, der von einem etwas einfältigen, jungen, arbeitslosen Briten handelt, der um in der örtlichen "Independent Islamic Boys’ School" eine Anstellung als Lehrer zu erhalten, zum Islam konvertiert – oder den Konvertiten spielt.

Die Fremden und das Genießen

Unausgeschöpft bleiben die Mittel der Komödie aber nicht bloß in Zusammenhang mit dem Islam. Auch dort, wo der Film rassistische Fantasien vieler "Einheimischer" über die Fremden anspielt, nehmen diese nicht wirklich Gestalt an.

In diesen Fantasien, die um das Verhältnis der Fremden zum Genießen und zur Leistung kreisen, artikuliert sich die Angst, jene Fremden könnten "uns" den Genuss stehlen. Sei es, indem sie als Sozialschmarotzer genießen ohne etwas zu leisten – und zwar auf Kosten von "uns Steuerzahlern". Oder indem sie umgekehrt zu viel leisten und sich raffgierig zum Kapitalisten hinaufarbeiten, um "uns" auszubeuten (letztere ist eine antisemitische Fantasie. Der Antisemitismus ist nicht einfach eine Unterabteilung des Rassismus. Auf dieser "libidinösen" Ebene scheint es zwischen den Beiden aber strukturelle Analogien zu geben). Oder aber sie bestehlen uns direkt. Als Kriminelle.

Von genau dieser Fantasie zeigt sich im Film die TV-Journalistin Marlene Weizenhuber fasziniert, die eine Doku-Serie über Migranten drehen will und auf zwei "voll intergierte" Schauspieler mit "Migrationshintergrund" trifft, die in der Serie eine Karrierechance wittern und sich als zwei "echte" – und kriminelle – Ausländer ausgeben. Hier hätte der Film das Wagnis eingehen können, jene kriminellen Fantasien "Realität" werden zu lassen. Etwa indem Weizenhuber oder die beiden Schauspieler an tatsächliche Kriminelle geraten oder selbst kriminell werden.

Filmstil aus "Die Migrantigen".
Foto: Golden Girls Productions

Vielleicht wäre es dann möglich gewesen, das eine oder andere Licht auf das komplexe Verhältnis zwischen Kriminalität und Gesellschaft zu werfen. Erinnern wir uns? Es gab eine Zeit, wo genau diese Komplexität auch in filmischen und literarischen Produktionen reflektiert wurde. Zum Beispiel in den Filmen des Jean-Pierre Mellville, in denen Verbrecher und Polizisten mitunter austauschbar scheinen. Oder in den Kriminalromanen Dashiell Hammetts oder Raymond Chandlers. Für die Gegenwartskultur hingegen scheint es, wie Robert Pfaller gezeigt hat, charakteristisch zu sein, dass das Verbrechen in Film und Fernsehen vorwiegend als jenes Schmutzige behandelt wird, dem Naturwissenschaftler und Kriminaltechniker in "C.S.I."-Manier zu Leibe rücken müssen – und längst nicht mehr als soziales Phänomen.

In "Die Migrantigen" geht es denn auch darum, die Migranten, die durch die TV-Doku der Öffentlichkeit und den Behörden verdächtig geworden sind, von genau diesem "Schmutz" reinzuwaschen – und am Ende die banale Erkenntnis zu bekräftigen, dass "nicht alle Ausländer kriminell sind". Eine Wahrheit die durch jene Doku-Serie verkannt zu werden droht, so dass der Film gegen Ende beinah ins Tragische kippt.

Der Logik der Tragödie folgt der Film – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen – auch dort, wo Marko, einer der beiden Schauspieler und "unechten Migranten", und sein "echt kroatischer" Vater – in einer Art Umkehr der Verkennung in der Ödipus-Tragödie – einander "erkennen" und sich in die Arme fallen. Von hier aus wäre der nächste logische Schritt Markos Rückkehr zu der "authentischen Identität" seiner Väter. (Sama Maani, 19.6.2017)

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