Foto: raoul kopacka

Target! Vier Meilen voraus. Halb Instinkt und halb Erfahrung sagen Reinier Boere an diesem Morgen, dass er richtig liegt. Ein schwarzer Balken am Horizont, die kleinen Punkte, die bald zu Köpfen werden, nach wenigen Minuten die Gewissheit: Das sind keine libyschen Fischer, das ist ein heillos überfülltes Holzboot, vollgepackt mit Menschen. Flüchtlinge aus Libyen.

Noch ist es kühl auf dem Mittelmeer, in der Search-and-Rescue-Zone 18 Meilen vor der libyschen Küste, auf dem Ausguck der Sea-Watch 2. Gerade erst hat das Meer die Sonne ausgespuckt, Boere hat die schwarze Trainingsjacke bis zum Kinn zugezogen, die weinrote Baseballkappe sitzt tief im Gesicht, aus seinen Kopfhörern wummert Techno-Musik. Ein obligatorischer Blick auf die Uhr. 6 Uhr 15 Minuten. "Um Mitternacht wurden die Menschen von den Schleppern losgeschickt." Was Boere an diesem Morgen noch nicht weiß: dass an diesem Tag noch vier weitere Boote folgen werden, eines aus Holz, drei aus Gummi; dass bei Sonnenuntergang 274 Menschen an Deck des zivilen Seenotrettungsschiffs sein werden und 121 auf hüpfburgähnlichen Rettungsinseln im Wasser.

Reinier Boere ist 39 Jahre alt, Niederländer, in seinem "normalen Leben", so nennt er das, betreibt er einen kleinen Schlüsseldienst in Amsterdam. Draußen auf dem Meer ist er Einsatzleiter und Koordinator der 16-köpfigen Crew der Sea-Watch, einer Berliner NGO, die es sich seit 2015 zur Aufgabe gemacht hat, Flüchtlinge aus Seenot zu retten und die Praktiken der EU-Politik an der Außengrenze Mittelmeer zu dokumentieren.

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Allein im Jahr 2016 sind 181.000 Menschen über die Fluchtroute Nordafrika-Italien nach Europa gekommen, 90 Prozent davon über Libyen. 5.000 Menschen sind im selben Zeitraum ertrunken. Allein in den ersten Monaten des Jahres 2017 geht das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) von etwa 2.000 Toten aus. Alles deutet darauf hin, dass 2017 das tödlichste Jahr an der EU-Außengrenze wird.

"Es ist so surreal!"

Das Erste, was Boere an diesem Morgen macht, nachdem er das Flüchtlingsboot gesichtet hat: einen Notruf absetzen. Einen Notruf an das MRCC in Rom, die zentrale Koordinierungsstelle für Rettungen auf dem Mittelmeer. Ganz wichtig: "Keine Rettung ohne den Auftrag aus Rom. Ohne die Zustimmung der offiziellen Behörde dürfen wir nicht eingreifen", sagt Boere. Denn, was viele nicht wüssten: Im Seerecht ist eine "Pflicht zur Rettung" festgeschrieben. Das MRCC allein bestimmt, welche Schiffe in eine Rettung involviert werden, welche Häfen die Schiffe anfahren dürfen, wo die Flüchtlinge an Land gehen. Bevor 2015 zivile Seenotrettungsorganisationen wie Sea-Watch aktiv wurden, waren es vor allem Militärschiffe und private Boote, Fischer und Handelsschiffe gewesen, die vom MRCC zu Hilfe gerufen wurden.

Die Crew der Sea-Watch besteht aus 17 hauptsächlich jungen Menschen. Sie sehen ihre ehrenamtliche Mission als Lückenfüller für Aufgaben, die die EU wahrnehmen sollte.
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"Ich glaube, das ist das Verrückteste, was ich je gemacht habe", sagt Stefanie Pender, als sie an diesem Morgen auf das schwarz-orange RIB, ein kleines Gummischnellboot, springt. Über dem braunen Haar der weiße Schutzhelm, über ihrem Oberkörper das dunkelblaue Sea-Watch-Shirt mit dem weißen Fernglas und dem Rettungsring drauf. Die 28-jährige Australierin, die in Berlin lebt, ist Ärztin an Bord der Sea-Watch. Es ist ihre erste Mission.

Mit 30 Knoten hält das Speedboot auf das Holzboot am Horizont zu, hinterlässt eine Furche aus sprudelndem weißen Schaum in der ruhigen See. "Es ist so surreal, es sind die Bilder, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt", ruft Pender gegen den Wind. Menschen in Todesangst, die Gesichter eingefroren, die Blicke tot. Die ungläubigen Freudenschreie, als Übersetzerin Sandra Hammamy, die an der Spitze des Speedbootes steht, ihnen zuruft: "Habt keine Angst! Ihr seid jetzt in Sicherheit! Willkommen in Europa!" Anschließend teilen die beiden Frauen den Menschen auf dem Holzboot Rettungswesten aus und bringen sie später mit dem Speedboot aufs Mutterschiff.

Ohne Helfer viele Tote

"Wären wir heute nicht hier draußen gewesen", sagt Reinier Boere später, als er durch die Fensterwand der Schiffsbrücke nach draußen blickt, "dann wären 400 Leute im Mittelmeer ertrunken." Vor den Fenstern liegen dicht an dicht Menschen. Zusammengekrümmt, die Körper reiben sich aneinander, kaum ein halber Quadratmeter für jeden von ihnen. Es ist still. Nur das Knistern der gold-silbernen Wärmedecken, in die sich die Menschen gewickelt haben. Und die leise Stimme einer nigerianischen Mutter, die ihren fünf Monate alten Sohn auf dem Arm wiegt und ihm zur Melodie von "Bruder Jakob" ein Gute-Nacht-Lied singt: "I love Jesus, I love Jesus. He's my friend. He's my friend …"

16 Stunden sind inzwischen vergangen, seit die ersten Menschen an Bord der Sea-Watch gegangen sind. Seit Stunden versuchen Boere und Kapitän Ruben Lampart, Unterstützung aus Rom anzufordern. Das Boot mit seiner maximalen Personenkapazität von 150 Menschen ist mit 274 Leuten an Deck total überladen, kaum mehr manövrierfähig. "Ich kann nicht länger für die Sicherheit garantieren!", brüllt der Kapitän in das Funkgerät. Die Antwort aus Rom kommt prompt: "Negativ." Keine Hilfe. Nicht jetzt. "Die Kriegsschiffe der EU-Staaten und die Frontex-Schiffe haben sich seit Anfang des Jahres weitgehend aus dem Suchgebiet zurückgezogen. Sie lassen uns allein hier draußen", sagt Boere bitter. "Man könnte meinen, sie wollen die Flüchtlinge bewusst sterben lassen."

Für 57 Stunden müssen die 274 Menschen von den Flüchtlingsbooten an Bord der Sea-Watch auf ihre Überstellung warten und werden von der Crew versorgt. In dieser Zeit erzählten sie von der besonders für Schwarze offenbar inhumanen Situation in Libyen.
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NGOs als Pull-Faktor?

Denn nicht alle in Europa sind von der Arbeit der freiwilligen Helfer auf dem Mittelmeer begeistert. Seit Anfang des Jahres sind die Ehrenamtlichen – rund ein Dutzend NGO-Boote operieren derzeit in der Search-and-Rescue-Zone vor Libyen – immer wieder zur Zielscheibe verbaler Angriffe durch europäische Politiker und Offizielle geworden.

Sebastian Kurz reiste Anfang Mai nach Libyen, um eine Zusammenarbeit mit der libyschen Regierung auszuhandeln. Sein Ziel: die Mittelmeerroute schließen.
Sebastian Kurz

Der italienische Anwalt Carmelo Zuccaro beschuldigte die NGOs, explizit auch Sea-Watch, mit den Schleppern in Libyen zusammenzuarbeiten. Auch der österreichische Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sagte in einem Interview mit dem "Kurier", dass es neben NGOs, die gute Arbeit leisten, auch welche gebe, die "mit Schleppern in Kontakt stehen und nicht dabei helfen, gegen diese vorzugehen". Beweise gibt es dafür bisher nicht.

Dolmetscherin Sandra Hammamy über die Arbeit von Sea-Watch: "Es ist deutlich härter geworden. Es gibt kaum mehr Einsätze ohne Tote." Sie geht auch auf den "NGO-Wahnsinn"-Sager von Außenminister Sebastian Kurz und den Vorwurf der Zusammenarbeit mit Schleppern ein.
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Kurz hatte bereits im März nach einem Besuch der europäischen Grenzschutzagentur Frontex auf Malta gewarnt, der "NGO-Wahnsinn" müsse gestoppt werden. Denn durch das Engagement der Freiwilligen würden mehr Menschen sterben anstatt weniger. Die Schlepper würden noch mehr überfüllte Flüchtlingsboote von Libyen aus losschicken, wenn sie wüssten, dass diese schon wenige Meilen vor der libyschen Küste aufgegriffen würden. Die Freiwilligen als Pull-Faktor, so argumentierte er damals.

Inzwischen geht für die geretteten Flüchtlinge zum zweiten Mal die Sonne hinter dem Bug der Sea-Watch unter. 36 Stunden schon sitzen sie auf dem Schiff fest, niemand, der ihnen mit Sicherheit sagen kann, wann und vor allem wie es für sie weitergeht. Das Trinkwasser wird knapp, die Essensvorräte auch, die Stimmung ist angespannt, die Menschen nervös. Gerade musste Einsatzleiter Boere einen Streit zwischen einer Gruppe Araber und einer Gruppe Westafrikaner schlichten, die sich um die letzten verbliebenen Wärmedecken geprügelt hatten.

An Deck der Sea-Watch harren Bootsflüchtlinge in Rettungsdecken aus und hoffen auf ein größeres Schiff, das sie in den nächsten sicheren Hafen überstellen kann.

An Deck der Sea-Watch sitzt auch Justina. Zitternd. Hat die Knie an ihre Brust gezogen, presst die Lippen zusammen, um nicht loszuweinen, während sie ihre Geschichte erzählt. "Ein Freund von meinem Mann ist in unser Dorf in Nigeria gekommen und hat uns versprochen, dass es in Libyen Arbeit gibt und ein besseres Leben", sagt sie.

Justina mit ihrem Mann.

Vor 16 Monaten hätten sie deshalb Nigeria verlassen, sich auf den Weg nach Libyen gemacht. "Als wir dort waren, haben wir festgestellt, dass wir belogen wurden. Die arabischen Männer kamen mit Waffen, sie haben uns alles weggenommen, was wir hatten. Sie haben uns in ein Lager gesperrt. Zusammengepfercht wie Tiere. Nur tagsüber durften wir raus zum Arbeiten. Zu essen gab es nichts als Brot." Justina hält inne. "Und nachts sind die Männer gekommen und haben die Frauen zu sich gerufen. Nach dem, was sie mit mir getan haben, kann ich nicht mehr normal laufen", sagt sie, blickt beschämt auf den Boden. Wie viele der Frauen an Bord hat sie Ärztin Stefanie Pender um einen Schwangerschaftstest gebeten. "Wir müssen davon ausgehen, dass all diese Frauen in Libyen sexuelle Gewalt erfahren haben", sagt Pender.

"Die Schwarzen sind Sklaven"

Justina deutet auf eine schlingenartige Narbe auf ihrem Unterarm. Ein Metallseil, erklärt sie. Sofort stehen um sie herum sechs weitere Menschen auf, Männer, Frauen. Manche entblößen ihre Oberkörper, bei manchen reicht ein Blick ins Gesicht, um die Spuren der Folter in Libyen zu erkennen. Brandnarben zwischen den Augen von Zigarettenstummeln, entzündete Schlieren über ganze Rücken von Peitschenhieben mit Elektrokabeln. Einem haben sie die Hand mit einem schweren Felsblock zertrümmert, ein anderer erzählt, dass er mit Kerosin übergossen und angezündet wurde. Diplomaten des deutschen Auswärtigen Amts hatten die Zustände in den Lagern in Libyen Anfang des Jahres als "KZ-ähnliche Verhältnisse" beschrieben. "Eigentlich dachten wir, wir kommen nie wieder frei", sagt Justina. "Aber dann sind sie gestern in der Früh mit Waffen ins Camp gestürmt, haben uns in einen Lieferwagen getrieben und zur Küste gefahren. Sie haben uns gezwungen, auf ein Schlauchboot zu steigen, uns hinaus aufs Meer gezogen, dann sind sie abgehauen."

"Wenn sie der Meinung sind, dass du genug gearbeitet hast, dann setzen sie dich in eines der Boote und bringen dich raus aufs Meer."

Wenige Meter entfernt von Justina sitzt ein junger Mann aus Gambia, sein Name ist Suleiman. Weil er neun Sprachen spricht, unter anderem Arabisch, Englisch, Französisch und ein klein wenig Deutsch, hat er für die libyschen Lageraufseher als Übersetzer gearbeitet. "Das Konzept der Libyer geht so", erklärt Suleiman. "Sie schicken Promoter in ihre Heimatländer, damit die den Menschen Träume verkaufen. Sobald die Schwarzen in Libyen ankommen, wird ihnen alles weggenommen, was sie haben. Sie werden als Sklaven verkauft oder in Lager gesperrt. Dort werden sie gefoltert, und die Familien in der Heimat werden erpresst, damit sie noch mehr Geld schicken. Wenn sie der Meinung sind, dass du genug gearbeitet hast, dann setzen sie dich in eines der Boote und bringen dich raus aufs Meer. In Libyen gibt es niemanden, der sie dafür bestrafen würde", sagt Suleiman. "Wenn du auf dem Meer bist, gibt es nur noch Europa oder den Tod. Beides ist besser als Libyen. Aber ich sage allen meinen Freunden zu Hause in Gambia: Bleibt, wo ihr seid, es lohnt sich nicht!"

Wenn Belachew Gebrewold von Pull-Faktoren spricht, dann gibt er sich alle Mühe, genau zu unterscheiden. Was lockt die Flüchtlinge, was lockt die Schlepper. Der Migrationsforscher vom Management Center Innsbruck versucht in seinem Buch "Understanding Migrant Decisions: From Sub-Saharan Africa to the Mediterranean Region" (Routledge 2016) zu erklären, warum Menschen ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen. "Ich weiß, für die NGOs ist es ein Schlag ins Gesicht, aber der Pull-Faktor-Vorwurf ist nicht komplett falsch", sagt Gebrewold. "Informationsverbreitung ist ein zentraler Bestandteil von Migration. Solange es Nachrichten gibt von Menschen, die es nach Europa geschafft haben, werden Migranten weiter versuchen, nach Libyen zu gelangen. Davon profitieren wiederum die Schlepper."

Denn während die Entscheidung, nach Libyen zu gehen, von den meisten noch autonom getroffen wird, fehlen den Menschen aus den Ländern südlich der Sahara die Ressourcen, die weitere Flucht selbstständig zu organisieren, so Gebrewold. "Sie begeben sich in totale Abhängigkeit von ihren Schleppern. Für die Schlepper sind Migranten Produkte, mit denen sich viel Geld verdienen lässt. Ihnen ist meist egal, ob Menschen sterben oder nicht."

Vergleich der Phasen, in denen Rettungsmissionen stattfanden oder eben nicht stattfanden.

Anfang Juni hat das Goldsmith College der Universität London eine neue Studie veröffentlicht, die wissenschaftlich widerlegt, dass mehr Retter auf dem Meer zu mehr Flucht führen.

Lorenzo Pezzani, einer der Koautoren des "Blamig the Rescuers"-Reports, sagt: "Der Vorwurf gegen die NGOs ignoriert ganz bewusst die Verschlechterung der politischen und ökonomischen Situation in vielen Regionen Afrikas, die viele Menschen im Jahr 2016 in die Flucht getrieben hat." Auch ein Frontex-Bericht aus dem letzten Jahr wird im Report zitiert, wonach die gestiegene Zahl von Migranten die Fortsetzung eines Trends der vergangenen Jahre sei – noch bevor die NGO-Schiffe überhaupt im Mittelmeer aktiv waren.

Auch der Behauptung, dass Rettung nahe der libyschen Küste der Grund dafür sei, dass Schlepper die Menschen auf immer kleinere und seeuntauglichere Boote packen, widersprechen die Wissenschafter. Grund für diesen Effekt sei vielmehr die Zerstörung großer Schlepperschiffe durch die EU-Militärmission Sophia. Das Vorrücken der NGO-Rettungsboote sei nur die logische Konsequenz, um mehr Tote zu vermeiden.

"Libyen existiert nicht mehr"

Im Moment spricht alles dafür, dass der Trend anhält, dass in Zukunft noch mehr Menschen versuchen werden, nach Europa zu kommen: Mit Fortschreiten des Konflikts in Libyen machen sich auch immer mehr Libyer auf den Weg. "Libyen existiert nicht mehr", sagt Salah.

Die Ärztin Stefanie Pender versorgt Salah und seine Kinder mit dem Nötigsten.

Der schlanke Mann mit den lockigen schwarzen Haaren sitzt zusammengekauert auf dem Boden des kleinen Bordspitals. Auf einer Liege hat Stefanie Pender seine Frau aufgebahrt, die in Ohnmacht gefallen ist. Seine Töchter, vier, sechs, acht Jahre alt, sitzen neben ihm auf dem Boden, kritzeln mit bunten Wachsmalstiften auf Papier. "Seit Gaddafi weg ist, gibt es in Libyen nur noch ein Gesetz: Töten oder getötet werden", sagt Salah. Und erzählt dann, wie er und seine Frau Mitte April einkaufen waren. Wie drei vermummte Männer den Wagen gestoppt hatten. "Auto – oder wir vergewaltigen deine Frau!", riefen sie. Salah gab ihnen das Auto, dann sind sie gerannt. "Natürlich habe ich gewusst, wie gefährlich es ist, übers Meer zu fahren – aber ich musste es riskieren: Länger als ein Jahr hätte meine Familie in Libyen nicht überlebt."

"Seit Gaddafi weg ist, gibt es in Libyen nur noch ein Gesetz: Töten oder getötet werden."

Währenddessen ist die EU dabei, nach Lösungen zu suchen, wie sie in Zukunft Flüchtlinge von Europa fernhalten kann. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht von 700.000 bis zu einer Million Migranten in Libyen aus. Als Bündnispartner hat sich die EU die sogenannte libysche Einheitsregierung (GNA) um Präsident Fayez al-Sarraj ausgesucht, die 2016 etabliert wurde, um die konkurrierenden Regierungen in Tripolis (GNS) und tausend Kilometer weiter östlich in Tobruk (HoR) zu versöhnen. Beobachter sehen in der Einheitsregierung nur eine dritte Pseudoregierung, die kaum Durchsetzungskraft hat in einem Land, das seit dem Sturz Gaddafis von Milizen, islamistischen Gruppierungen wie dem IS und Stammesfehden geprägt wird.

Nichtsdestotrotz hatten die Europäische Union und Italien bereits im Februar beschlossen, der libyschen Einheitsregierung je 200 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, damit diese das Abkommen zur Eindämmung von Migration umsetzt. Die GNA fordert indes 800 Millionen, um Flüchtlinge vor der Überfahrt nach Europa abzuhalten und Schlepper zu bekämpfen, zusätzlich hat sie im April eine ganze Wunschliste für die Aufrüstung der libyschen Küstenwache in Brüssel eingereicht: Darauf stehen unter anderem Funkgeräte, 200 schusssichere Westen und 130 teils bewaffnete Boote.

Drei Menschen, drei Wege auf einem Schlauchboot im Mittelmeer zu enden.
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Der Traum vom sicheren Fluchtweg

"Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll", sagt Reinier Boere, als er erschöpft auf der blauen Bank in der Messe liegt, wie die Freiwilligen das Schiffswohnzimmer der Sea-Watch nennen. Drei Tage sind vergangen, seit er auf dem Ausguck stand, durch das Fernglas das erste Flüchtlingsboot erblickte. 57 Stunden hat es gedauert, bis der letzte Geflüchtete von Bord gegangen ist. Erst ein britisches Kriegsschiff, dann die Vos Prudence, das Seenotrettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen, konnten die Menschen aufnehmen, sie nach Lampedusa bringen, wo sie registriert werden, bevor sie ihre Asylanträge stellen können.

"Einerseits bin ich erleichtert und glücklich, dass wir so vielen Menschen da draußen das Leben retten konnten. Andererseits ...", sagt Boere, "ist es einfach nur bizarr, was hier draußen passiert. Wir Freiwilligen werden alleingelassen. Die Politiker versuchen Symptome zu bekämpfen, aber gegen die Fluchtursachen tut niemand etwas." Es ist eine Sisyphusarbeit, die die Helfer hier draußen leisten: Menschen suchen, Menschen retten, Menschen nach Europa bringen, wo die allermeisten einen Asylantrag stellen, der in den allermeisten Fällen negativ beschieden wird, da man ihre Heimatländer als sicher, ihre Fluchtgründe als nichtig einstuft. Boere träumt deshalb von "safe passage", der sicheren Überfahrt. "Es muss endlich sichere Wege geben, um Asyl in Europa zu beantragen. Nicht dass Menschen erst ihr Leben riskieren müssen, um dann zu sehen, dass sie eh keine Chance haben", sagt er.

Aber wie soll das gehen angesichts der unübersichtlichen Kräfteverteilung in Libyen? "Na ja", sagt Boere, wischt sich mit dem Trainingsjacken-Ärmel Schweiß von der Stirn. "Wenn die EU mit der libyschen Regierung Deals über den Küstenschutz schließen kann, dann kann sie vielleicht auch Behörden einrichten, wo die Menschen Asyl beantragen können."

Foto: raoul kopacka

Stefanie Pender nickt müde. Das Haar klebt verschwitzt im Nacken, ihre blauen Augen sind gerötet von Übermüdung und Tränen. Was sie am ersten Morgen nicht wissen konnte: dass zwei noch verrücktere Tage folgen sollten. Dass sie zeitweise als einzige Ärztin für die Gesundheit und das Überleben von fast 400 Menschen verantwortlich sein würde.

Die 28-jährige Australierin Pender ist die einzige Ärztin an Bord der Sea-Watch. Es ist ihre erste Mission.

Dass sie ein 20 Stunden altes Baby aus einem überfüllten Schlauchboot retten würde, dessen Mutter noch bei der Geburt in Libyen verstorben war. Dass sie einen jungen Mann mit Herz-Lungen-Reanimation auf dem Schlauchboot zurück ins Leben holen würde. Es sind Geschichten, die ihre Freunde wahrscheinlich nicht glauben wollen. Es sind Geschichten, die keinen Platz haben in ihrer Welt in Berlin-Prenzlauer Berg, in die sie in wenigen Tagen zurückkehren wird.

Und auch keinen Platz in Amsterdam, wo Reinier Boere nächste Woche wieder panischen Menschen die Schlösser zu ihren versperrten Appartements aufbrechen wird. "Ich hoffe wirklich, dass ich eines Tages nicht mehr hinausfahren muss aufs Mittelmeer", sagt Boere und überlegt kurz: "Aber dafür muss erst einmal jemand diesen Wahnsinn hier draußen beenden!" (Reportage: Bartholomäus von Laffert, Foto- und Videomaterial: Raoul Kopacka, Produktion: Maria von Usslar, 25.6.2017)