Gefeit vor den Anfechtungen von links und rechts: Tomas Venclova auf der Leipziger Buchmesse 2017.

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Wien – Als es dem litauischen Dichter Tomas Venclova an einem Jännertag 1977 endlich gelang, die Sowjetunion zu verlassen, vergaß er Entscheidendes. Vor jedem Abflug vom Moskauer Flughafen war es üblich, den Zurückbleibenden durch die Glasscheibe, die die Eingangshalle vom Abflugbereich trennte, ein letztes Mal zuzuwinken. Venclova gesteht, von den Kontrollprozeduren durcheinander gewesen zu sein. Er schenkte seiner Mutter und den Freunden zunächst keine Aufmerksamkeit. Als er den Grenzer darum bat, für einen Augenblick zurückgehen zu dürfen, fragte der: "Haben Sie einen Diplomatenpass?" Venclova, als Mitglied der litauischen "Helsinki"-Gruppe seit geraumer Zeit im Fadenkreuz der Sowjetbehörden, verneinte. "Dann ist es nicht erlaubt."

Für Venclova, den kosmopolitischen Unruhestifter, war – und ist – die Herstellung von Gerechtigkeit ohnehin kein Geschäft, das man politischen Instanzen überlässt. Der Episode am Flughafen widmete er später ein Gedicht (Scheremetjewo 1977). In diesem heißt es: "Ich wusste nicht, hält Persephone sie oder mich gefangen."

Widerspenstiger Poet

Venclova war sich im Klaren darüber, dass er mit dem Verlassen der Sowjetunion die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten überschritt. In seinem Erinnerungsbuch Der magnetische Norden konstatiert der spätere Petrarca-Preisträger in der ihm eigenen, reizvoll trockenen Art: "In diesem Fall war es ungewiss, wer die Lebenden und wer die Toten waren."

Seine Reise führte den widerspenstigen Poeten recht ungesäumt nach Kalifornien. Dort traf er nicht nur seinen berühmten polnischen Kollegen Czeslaw Milosz. Es gelang ihm, in den universitären Lehrbetrieb einzusteigen und von den Verhältnissen nicht nur in den sowjetisierten baltischen Republiken Zeugnis abzulegen. Venclova war nolens volens zum Weltbürger geworden. Beheimatet blieb er in der einzigen Sphäre, für die kein Geheimdienst den geeigneten Passierschein hat: der Poesie.

Die geschundenen Vertreter der Intelligenz

Das kaum zu überschätzende Verdienst des Gesprächsbandes Der magnetische Norden liegt in der Erinnerung an die Leistungsfähigkeit der Kulturtechnik Poesie. Diese ermöglichte es den geschundenen Vertretern der Intelligenz, den realsozialistischen Totalitarismus zu überdauern – wenn sie auch nicht in jedem Fall half, ihn zu überleben.

Venclovas Leben versteht daher nur, wer sich die Besonderheiten Nordosteuropas bis 1991 vor Augen hält. Das "Nation Building" der drei baltischen Staaten vollzog sich gegen zahllose Widerstände. In langwierigen Prozessen der kulturellen Verschmelzung wie der trotzigen Selbstbehauptung musste sich Litauen erst der polnischen, hierauf der sowjetischen, dann der nationalsozialistischen, schließlich – und scheinbar endgültig – wieder der sowjetischen Übermacht ergeben.

Suche nach Gefährten

Der Schriftstellersohn Tomas Venclova besaß beste Voraussetzungen, nach Kriegsende in der Sowjetrepublik zu reüssieren. Während Nationalisten ("Partisanen") in den Wäldern gegen die Okkupatoren weiterkämpften, freundete der junge Venclova sich mit anderen Freidenkern an. Die verschiedenen Nationalliteraturen bildeten geistige Rückzugsgebiete. In diesen bewegte sich Venclova schon bald wie ein Fisch im Wasser.

Zu den heroischen Akten der Daseinsvorsorge gehört es, eine Vielzahl der Verse von Boris Pasternak auswendig zu können: natürlich im russischen Original. Venclova schlüpft hinein in das Netzwerk der Untergrundbewegung. Mit jedem "Tauwetter" wächst die Zahl der Maschen im Netz. Der mit Ruhe und Selbstbewusstsein gesegnete Litauer wohnt dem Pasternak-Begräbnis in Peredelkino 1960 bei: nach der Affäre rund um die Nichtannahme des Literaturnobelpreises durch Pasternak ein Akt von demonstrativer Subversion. Venclova freundet sich in Moskau mit Anna Achmatowa an. Vor allem aber erkennt er in dem Leningrader Jahrhundertlyriker Joseph Brodsky einen widerspenstigen Bruder im Geiste.

Venclova wird zum schikanierten Menschenrechtsaktivisten – nicht trotz, sondern wegen seiner dichterischen Mission. In Osteuropa ist es unmöglich, das schwierige Geschäft des Dichtens ohne Ethik zu betreiben. Es ist diese Gewissheit, die Venclova, den ungeschwätzigen Chronisten des 20. Jahrhunderts, auch im Exil anleitet. Die Gespräche, die Venclova mit US-Autorin Ellen Hinsey geführt hat, gehören von nun an zu den unverzichtbaren Zeugnissen eines Unbestechlichen. (Ronald Pohl, 23.6.2017)