Der Dichter Johann Gottfried Seume ("Spaziergang nach Syrakus") hat recht damit, "dass alles besser gehen würde, wenn man nur ginge".

Foto: Mia Eidlhuber
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Wann, frage ich mich, ist das eigentlich losgegangen mit dem Gehen? Eigenartigerweise mit zwei Dingen, die mit Gehen auf den ersten Blick nicht so viel zu tun haben. Nämlich eher mit Lesen und Sitzen. Aber der Reihe nach. Zuerst fiel mir das Buch des Norwegers Tomas Espedal in die Hände mit dem schönen Titel Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen. Das wollte ich auch. Und seine Reflexionen ließen keinen Zweifel daran, dass das Gehen nicht nur mit körperlichen, sondern auch mit geistigen Grenzerfahrungen zu tun haben muss: Selbstfindung also und Ängste überwinden, Freiheit finden, die eigene Vergänglichkeit hinter sich lassen.

Ich ahnte, dass Espedal mit seinem langen Essay sicherlich einer langen Tradition von Schriftstellern nachging. Ich wurde schnell fündig, und meine einschlägigen Bücherstapel wuchsen in die Höhe: Dichter wie Johann Gottfried Seume mit seinem berühmten Spaziergang nach Syrakus (1802), Goethe, Stifter, aber auch Peter Handke (zum Beispiel Der große Fall) oder Thomas Bernhard (Gehen), dann natürlich die Naturdenker Jean-Jacques Rousseau (mit seinem Großessay Ausbildung zum Gehen) und Henry David Thoreau (mit Walden, dessen 200. Geburtstag wir im Standard -ALBUM am 8. Juli begehen). Und nein, es ist kein Zufall, dass hier weniger von Schriftstellerinnen die Rede ist.

Ich gehe, also bin ich

Die sicherlich umfassendste und sehr bequeme deutschsprachige Anthologie von Ilija Trojanow und Susann Urban Durch Welt und Wiese oder Reisen zu Fuß, die 2015 als 73. Band der Anderen Bibliothek erschienen ist, versammelt insgesamt 55 fußläufige Positionen. Gerade einmal sieben Stück davon sind von Frauen verfasst. Eine etwa von der britischen Schriftstellerin Elizabeth von Arnim, für die Wandern, obwohl sie es gern mochte, nicht infrage kam: "... selbst wenn ich mich nicht vor Landstreichern gefürchtet hätte, was ich aber tat. Daher fuhr ich mit der Kutsche ..."

Trojanow hat diese unterschiedlichen Betrachtungen passend in Kapitel wie "Aufbrüche", "Meditationen" oder "Verwandlungen" geordnet. Vielen dieser Positionen gemeinsam: Losgehen, um sich selbst zu verlassen und durch das Gehen ein anderer zu werden. Einmal alles hinter sich lassen: Familie und Freunde, Gewohnheiten und Besitz, Geborgenheit und Sicherheiten. Ich gehe, also bin ich. Irgendwie so. Oder, um zurück zu Espedal zu kommen: "Du bist glücklich, weil du gehst."

Es geht also um das Glücklich-sein-Wollen, und das bringt mich – neben dem Lesen – zum zweiten Umweg, den ich zum Gehen nahm. Sitzen, heißt es neuerdings oft, sei das neue Rauchen. Vielleicht stimmt das, wenn es um das lange Sitzen am Computerarbeitsplatz geht, das Rücken krumm und Schmerzen macht. Aber es gibt noch ein anderes Sitzen – und in das bin ich quasi hineingestolpert. "Schweigen und Wandern" stand über der Woche im Lesachtal, für die ich mich angemeldet hatte. "Schweigen und Wandern" klang nach Burnout-Prophylaxe – und das war es auch. Was ich nicht wusste: Dieses Schweigen und Wandern wurde von stundenlangen Meditationssitzungen umrahmt. Wenn man nach 20, 30 oder manchmal auch 40 schmerzhaften Minuten des Stillsitzens von seinem Meditationskissen wieder aufstand, ging man zum Ausgleich in der Gruppe langsam im Kreis: ein Schritt nach dem anderen, so langsam und aufmerksam, dass man dabei fast ins Schwanken geriet. Zunächst fand ich das nervig, aber diese "Zen-Buddhismus-Bootcamp-Woche", wie ich sie nannte, wenn ich Freunden davon erzählte, lehrte mich die Politik der kleinen Schritte. Tagsüber, wenn wir stundenlang schweigend wandern waren, der Anstieg hart, die Beine müde waren, dachte ich an diese kleinen Schritte und an das, was der Zen-Meister über das Gehen als Haltung zu sagen wusste.

Nur noch 600 Meter pro Tag legt heute ein Mensch durchschnittlich in unseren Breiten zu Fuß zurück. Dabei herrscht Einigkeit darüber, dass Gehen überaus gesund wäre. Beinahe ein Allheilmittel: Es tut nicht nur Herz, Kreislauf und Muskeln gut, es hilft gegen Depressionen und Gedächtnisschwund, beugt vielleicht sogar Krebs vor. Und noch besser: Es beflügelt unseren Geist. Schon der französische Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592) schrieb, dass der Geist sich nicht rühre, wenn ihn die Beine nicht bewegten. Landschaftspsychologen wissen, dass sich Menschen besser konzentrieren können, wenn sie sich im Grünen bewegen. Gehen und Wandern sind also nicht umsonst – besonders bei Jungen und Intellektuellen – wieder Trendsport geworden. Nicht nur Hape Kerkelings Bestseller Ich bin dann mal weg aus dem Jahr 2006 hat einen Pilger- und Jakobswegboom in Gang gesetzt und Trekkingausrüstern höhere Wachstumsraten als der Autoindustrie beschert.

Aber beim Gehen entstehen nicht nur Gedanken, sondern auch der Weg, besagt schon ein altes Sprichwort. Mein Weg führte wie der von Johann Gottfried Seume auch nach Syrakus, aber dorthin bin ich mit dem Auto gefahren. Sonst aber bin ich auf Sizilien viel gegangen – zum ersten Mal allein. Zum Beispiel in Taormina. Das Schönste für mich war nicht das unglaublich schöne Amphitheater, es war ein Kreuzweg, der direkt neben der berühmten Wunderbar hinauf auf einen Berg führt. Es war heiß und ich durstig, aber so wie beim Wandern mit dem Zen-Meister tat ich einen Schritt nach dem anderen, Stufe für Stufe. Oben neben der Pilgerkirche ließ ein stämmiger Sizilianer gerade die Rollläden seines Kiosks herunter. Durch die Seitentür hat er mir noch ein Wasser verkauft. Als ich schon wieder hinuntergehen wollte, hat er mir nachgerufen und auf eine halb zugewachsene Stufe gedeutet: Da! Da geh weiter, rauf zum alten Castello!

Italiener gehen nicht gern zu Fuß, schon gar nicht auf einen Berg. Es war Nebensaison, und da war außer mir niemand. Nicht auf dem Weg und nicht auf dem Berg. Lange bin ich da oben gesessen, auf der einen Seite der Blick auf das weit unten liegende Amphitheater, die umliegenden Buchten und das Meer, auf der anderen Seite der Ätna, auf dessen Vulkangestein ich Tage zuvor noch im Nebel herumgewandert war und der sich langsam aus einer Wolke streckte. Von Sizilien kam ich mit der Überzeugung zurück, dass Seume recht hatte, "dass alles besser gehen würde, wenn man nur ginge", und mit einem Vorsatz: Mehr zu gehen, nicht nur morgens ins Büro und am Wochenende um die Weinviertler Felder.

Mein Vorgaben-Rucksack

An einem Sonntag Ende März breche ich also auf. Mein Vorhaben lächerlich im Vergleich zu dem, was ich in einer Art "Vorgaben-Rucksack" mit mir herumschleppe: eben Seume, der von Grimma nach Syrakus und wieder zurück gegangen ist. Oder der deutsche Regisseur Werner Herzog, der 1974 durch Schnee und Eis von München nach Paris zur legendären und damals schwer erkrankten Filmhistorikerin Lotte Eisner gepilgert ist. Oder zuletzt noch mein früherer Redaktionskollege Henning Sußebach, der sich quer durch die Pampa von der Ostsee bis zur Zugspitze über 1200 Kilometer aufgemacht hat und darüber das wunderbare Buch Deutschland ab vom Wege geschrieben hat, das so weitgehend Auskunft über den Zustand unserer Gesellschaft gibt.

Ich werde an der Donau gehen, 100 Kilometer stromaufwärts von Melk nach Ottensheim, wo ich aufgewachsen bin. Ich schreibe jetzt kein "nur", denn immerhin: Ich gehe los, es bleibt nicht bloß ein Vorhaben. Wochen später wird mein blauer Nagel an der linken großen Zehe mich daran erinnern, dass ich tatsächlich unterwegs war. Ich erreiche den Fluss beim großen "Donaukilometer 2040"-Schild, ein Leitsystem, das mich die nächsten Tage begleiten wird. Es ist sonnig und kühl, und kurz denke ich an Werner Herzog, der damals seinen Marsch im Dezember absolviert hat und schreibt: "Wenn ich wirklich ankommen sollte, wird niemand erfahren, was das war, dieser Weg."

Es ist nichts los, aufgeregt bin ich trotzdem. Irgendwann zwei Radfahrer, erst ab Mai wird der Treppelweg zwischen Passau und Budapest belebter sein. Dann ein erstes Schiff: River Navigator. In Pöchlarn ist es windig, nur Frauen mit Kopftuch und Kindern sitzen auf den Bänken, Menschen, die keine eigenen Gärten haben, denke ich und jausne Brot mit Käse aus meiner Blechdose. Abends liege ich nach nur 25 Kilometern am ersten Tag müde im Gasthausbett, kurz vor dem Schlaf notiere ich: "Enten, ein Kormoran, Spechte klopfen im Auwald, die Geräuschkulisse eines örtlichen Fußballmatches, Maria Taferl lange im Blick ..."

Immerhin: Ich gehe los, es bleibt nicht nur ein Vorhaben.
Foto: Mia Eidlhuber

Ich bin jetzt eine Wandersfrau auf irgendeiner Bundesstraße. Eine, die geht. Am zweiten Tag funktioniert das Gehen schon besser. Der Weg ist das Ziel, denke ich, und das Ziel ist das Grab. Das meiner Großmutter nämlich, die tags darauf 100 Jahre alt geworden wäre. Ich denke an die Fußmärsche meines anderen Großvaters – im Krieg, in die Kriegsgefangenschaft und wieder nach Hause. So unglaublich. Wie blau der Himmel über mir ist. Wie das wohl wäre, wenn es eisig wäre und stürmen würde, ich Hunger hätte?

"Man kommt von einem aufs andere", schreibt die kalifornische Essayistin Rebecca Solnit in Wanderlust über die Vorgänge im Gehirn beim Gehen. Die Natur steht wie in Startlöchern, alles strahlt Kraft aus, das erste Schiff heute heißt Arosa bella. Ich sehe einen Storch, der wegfliegt, als ich ihn fotografieren will, und später einen toten Vogel auf dem Asphalt liegen. Fallen Vögel, wenn sie sterben, eigentlich tot vom Himmel? Ich bin schnell auf den Beinen und laufe an einem Campingplatz vorbei. Wohnmobile mit kleinen, abgezäunten Vorgärten. Es ist Montag und noch nicht Sommer, keiner ist da. Da könnte man einsteigen und notfalls schlafen, wäre man ohne Geld und so mutig wie damals Herzog unterwegs, der immer wieder in leerstehende Landhäuser eingestiegen ist.

Ich werde am Ende des Tages über 40 Kilometer gegangen sein. Ich weiß es nicht genau, kein Smartphone hat die Kilometer oder meine Schritte gezählt, solche Apps gibt es natürlich längst. Aber die Genugtuung, die ich am Ende empfinden werde, wollte ich nicht von den lobenden Sätzen einer computergenerierten Stimme abhängig machen. Viel lieber ist mir der Wirt in Wallsee, der extra am Ruhetag für mich aufgesperrt hat und mich bei meiner Ankunft lachend fragt, ob er mich vielleicht in den ersten Stock rauftragen soll. Keine Frage, ich sehe erschöpft aus. Die letzten zehn, fünfzehn Kilometer haben sich nämlich gezogen – wie der Donaustrom. Mir ist außerdem das passiert, wovon alle Wandersleute ein Lied singen können: Ich habe mich verlaufen, meine Kräfte überschätzt – und ich hatte Angst.

Irgendwo biege ich falsch ab

Irgendwo biege ich falsch ab, muss leere Kilometer machen und ein einsames Augebiet durchqueren, wo ein schwarzes geparktes Auto mit einem Mann bei mir alle schlimmen Fantasien zutage fördert. Die Sonne brennt und meine Hüften brennen auch, und sie erinnern mich daran, wohin ich unterwegs bin. Sie schmerzen als hätte ich Nägel eingeschlagen, wie meine Großmutter nach ihrem Oberschenkelhalsbruch. Nie könnte ich jetzt davonlaufen, denke ich. Fühle mich wie schutzloses Freiwild. Hochstände stehen im Gelände, und irgendwann nehme ich meine rote Kappe ab und stopfe sie in meinen grauen Rucksack, um weniger gut sichtbar zu sein. Und: Ich beende meine digitale Auszeit, hole mein Handy hervor und schalte den Flugmodus aus, um zu telefonieren und mich beruhigen zu lassen: Genau, der Mann war sicher nur ein Jäger, der im Revier nach dem Rechten schauen musste.

Eigentlich ist ja der Wanderer das suspekte Objekt. Auch das hat Tradition. Wer zu Fuß auftauchte, musste ein armer Schlucker sein. Zu Recht beschreibt Trojanow in seinem Eingangsessay "Fußwärts" das Gehen als subversive Lebensform: "Arbeitsverweigerung, Müßiggang – seit der Epoche der Jäger und Sammler, die durchschnittlich nur zwanzig Stunden in der Woche für ihr Überleben aufwenden mussten. Solche Verheißungen sterben niemals aus. Sie gehen auf im fahrenden Volk, unter Bettlern, Deserteuren, Dieben, Hausierern, Kriegsversehrten, Landstreichern, Schaustellern, Spielleuten, Tramps, Vaganten, Wanderarbeitern, Zigeunern, Tippelbrüdern, Obdachlosen, Vertriebenen wie auch Ausgewanderten, ausgesondert oder ausgestiegen, fußgläubig viele von ihnen. Mit unerbittlichem Hass wurden sie verfolgt von den Sesshaften ..."

Die letzten fünf Kilometer lege ich einen komischen Hüftschongang ein. Ich zweifle ernsthaft daran, je anzukommen. Die kleinen Betonhocker am Treppelweg wollen kein Ende nehmen. Über keinen könnte ich mehr springen. Ich bin fast zu müde zum Essen im einzigen Wirtshaus am Platz, das montags geöffnet hat. Auch das Paar nebenan spricht kaum, an der Theke wird geraucht, hinter mir hängen historische Schwarz-Weiß-Bilder: Männer in Gruppen mit Hüten und Bärten und Jagdgewehren. Ich bin zu ausgelaugt, um irgendetwas zu notieren.

Schon am nächsten Morgen um sieben schlüpfe ich wieder in meine Wandersocken vom Vortag und mache das, was mir beim Einschlafen unmöglich schien: Ich gehe wieder los. In der Morgensonne überquere ich die Kraftwerksbrücke Wallsee zum anderen Donauufer. Ich bin die einzige Fußgängerin im sich stauenden Werktagsfrühverkehr. Eine Frau neben mir kurbelt die Autofensterscheibe hinunter: Woher? Und wohin? Ich muss lächeln: Jetzt bin ich die suspekte Vagabundin. Gebe kurz Auskunft, während die Autoschlange wieder weiterrollt. Eine Sirene heult in dem Augenblick los, in dem ich die alte Frau auf dem kleinen Traktor entdecke. Sie trägt eine schmutzigweiße Pelzmütze, und ihre Gesichtsbacken sind so rot, als hätte sie Schnaps zum Frühstück getrunken.

Ich bin jetzt fast zu Hause

Überallhin sollte man zu Fuß gehen, um immer etwas Neues im Vertrauten zu entdecken. Ich gehe weg von der Donau durch Alpenvorlandkulissen. Alles ist beängstigend aufgeräumt, zwischen Vierkantern und Fertigteilhäusern gehe ich weiter in Richtung Mühlviertel, also hinauf auf kleine Anhöhen, wo ich erstmals nach den Mühen der Ebene einen Blick bis zu den Alpen habe. Dieser Ausblick macht mein Herz so weit und groß, dass es sprichwörtlich vor Freude hüpft. Das will ich genießen und beschließe – wie Tomas Espedal übrigens auch -, ein bisschen zu schwindeln. Ich nehme zwischendurch den Zug und wandere "nur noch" die letzten 15 Kilometer nach Ottensheim. Vom Linzer Hauptplatz schaue ich auf den Pöstlingberg hinauf und bin jetzt fast zu Hause.

"Die Welt unserer Kindheit scheint etwas zu sein, das uns in unseren Grundfesten ausmacht", schreibt der Berliner Autor Daniel Schreiber in seinem schönen Essay Zuhause, der sich sehr klug mit ebenjenen Fragen beschäftigt: Woher kommen wir? Und wohin gehen wir? Schreiber glaubt, "dass es zutiefst menschlich ist, sich dieser Sehnsucht nach dem Ort seiner eigentlichen Herkunft hinzugeben und erzählerisch immer wieder dahin zurückzukehren".

Die Rohrbacher Bundesstraße, die zehn Kilometer von Linz-Urfahr nach Ottensheim führt, bin ich, ich weiß nicht wie oft, zunächst mit dem Bus und später mit dem Auto gefahren. Kein einziges Mal bin ich hier gewandert. Zunächst gehe ich auf dem Gehsteig, und die Autos fahren mir mit 100 km/h und mehr um die Ohren. Ich bin in einem Inferno gelandet. Ein Zitronenfalter fliegt auf Augenhöhe ein Stück weit mit mir. Mich wundert, dass er durch die Wucht der vorbeifahrenden Lastwagen nicht gegen die Felswand gewirbelt wird. Sonne, Asphalt und Höllenlärm. Ich bin entnervt, so kurz vor dem Ziel: Wo sind die stillen Treppelwege der vergangenen zwei Tage, das Grün und die Ruhe geblieben?

Zufällig entdecke ich an einer Ausfallstraße eine kleine, steile Treppe, die mich zu einem düsteren Betontunnel führt, der unter der Schnellstraße durchgeht. Kurz ausrasten am Donauwasser, denke ich noch und entdecke rechter Hand eine kleine Holzbrücke, die direkt in einen Weg übergeht. Auf einem Schild lese ich: "Wiesinger-Weg, Puchenau-Ottensheim". Ich bin perplex. Da unten, hinter einem stinkenden Betonrohr, tut sich weit unter Straßenniveau plötzlich ein Weg auf. Vielleicht, denke ich beim Weitergehen, tut sich so ein Wiesinger-Weg – metaphorisch – in allen schwierigen Lagen auf. Ein Weg, den man oft jahrelang nicht sieht, obwohl er immer schon da ist.

Foto: Mia Eidlhuber

Nie hätte ich gedacht, dass mich der Anblick der Kirchturmspitze von Ottensheim einmal so glücklich machen könnte. Ab jetzt ist mir alles vertraut, seit frühester Kindheit: Tennisplatz, Fußballplatz, jeder einzelne Betonhocker am Treppelweg, das Café Casagrande, das Haus einer Kinderfreundin, das früher einen anderen Anstrich hatte, die Donaufähre, die mein Spielplatz war, das Gasthaus, das einmal uns gehörte. Über die kleine Gasse gehe ich hinauf zum Friedhof und bringe Märzenbecher, die meine Großmutter so mochte: "Geboren am 28. März 1917". Hundert Kilometer, hundert Jahre. Trotz Rückschlägen weiterzumachen, das konnte man von ihr lernen. Trotz Oberschenkelhalsbruchs. Weitergehen – auch am Stock: "Der ist mein bester Freund", hat sie oft lachend gesagt.

Der Zug nach Hause, von Linz nach Wien, braucht gerade einmal eine Stunde 19 Minuten für eine doppelt so lange Strecke, wie ich sie in den vergangen drei Tagen gegangen bin. Noch am selben Abend starre ich auf die dunklen Fenster, in denen sich das Wageninnere spiegelt, während der Zug mit mir durch die Nacht braust. Zwei Monate später wird mir der Nagel meiner linken großen Zehe abfallen. Seume ging von Grimma bis Syrakus übrigens in einem einzigen Paar Schuhe, wofür er seinem Schuster immer wieder sehr dankbar war. Bei mir wächst gerade ein neuer Nagel nach. Höchste Zeit, wieder in die Wanderschuhe zu schlüpfen.

Noch weiter gehen. (Mia Eidlhuber, Album, 24.5.2017)